Auseinanderfallen alter Selbstverständlichkeiten?

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Gegner als Dämonenfürst: Anti-Papst-Holzschnitt Cranachs 1545 (Detail, später koloriert) mit „Strippenzieher“ hinter dem Papst.Bild: akg
Gegner als Dämonenfürst: Anti-Papst-Holzschnitt Cranachs 1545 (Detail, später koloriert) mit „Strippenzieher“ hinter dem Papst.Bild: akg

Gegen falsche Sicherheiten: „Nichts geschieht durch Zufall und alles ist verbunden“

„Die Götter sind abgeschafft. Aber ihre Stelle nehmen mächtige Männer oder Verbände ein – unheilvolle Machtgruppen, deren böse Absichten für alle Übel verantwortlich sind.“ Diese Sätze sind bereits 75 Jahre alt. Sie stammen von Karl Popper. Er war jüdischer Herkunft und floh vor den Nazis von Wien nach London. Sein Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ erschien 1945. Sie unterscheidet demokratische Gesellschaften von „geschlossenen“, totalitären. Was ihnen nicht passt, dafür können in ihrem Weltbild nur finstere Mächte verantwortlich sein, die sich gegen die Menschheit verschworen haben. Diese Theorie sieht Popper als ein Ergebnis der „Verweltlichung eines religiösen Aberglaubens“.

Professor Michael Butter wies in einer Online-Veranstaltung bei der Evangelischen Stadtakademie Nürnberg darauf hin, dass bereits Popper damals den Begriff „Verschwörungstheorie“ gebraucht habe. 

Begriff der „Theorie“ als Aufwertung?

Es sei auch keine Aufwertung von Verschwörungstheoretikern, wenn ihren Thesen durch diesen Begriff sprachlich eine quasi wissenschaftliche Weihe zuteil würde. Die Angehörigen dieser Meinungen selbst „hassen diesen Begriff“. Oft entwerten sie ihn, indem sie ihn auf ein Memorandum der CIA aus dem Jahr 1967 zurückführen. So will also Butter an diesem Begriff festhalten. Und dies nicht nur aus pragmatischen Gründen. Denn nur in Deutschland stände dieser Begriff derart in der Diskussion, so der Dozent vom Lehrstuhl für Amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen, der ein europäisches Forschungsprojekt dazu leitet. 

Gegenüber dem Begriff „Verschwörungstheorie“ bevorzugt allerdings Matthias Pöhlmann die Bezeichnung „Verschwörungsglaube“. Er eigne sich gerade, um den für die Anhänger solcher Überzeugungen ideologischen, quasi-religiösen, sinnstiftenden Kern aufzuzeigen, so der Beauftragte für Sekten- und Welt-anschauungsfragen der bayerischen Landeskirche in dem neu erschienenen Buch „Corona und Religionen – Religiöse Praxis in Zeiten der Pandemie“ der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW). „Verschwörungsglaube erlebt gerade in Übergangs- und gesellschaftlichen Krisenzeiten eine Konjunktur und weist erkennbar ersatzreligiöse Funktionen auf“, meint Pöhlmann weiter. Da ist er wieder nah bei den Ansichten Butters. 

Gegner dämonisiert

Der Tübinger zeigte weitere Entwicklungslinien auf: Schon in der Pestzeit ab Mitte des 14. Jahrhunderts erreichten Verschwörungs-theorien, -glaube daran die Massen. Bereits damals war das geschlossene Welt- und Glaubensbild des Hochmittelalters gesprengt. Nicht mehr Gott trug die Verantwortung für den Schrecken, sondern angeblich finstere Mächte, etwa „die Juden“.

In der Reformationszeit und der Epoche der Glaubenskrieg sahen beide Seiten ihre Gegner möglichst dämonisch und teuflisch. Anscheinend spannen sie ihre ekligen Spinnenfäden über die Welt. Hexen waren ganz klar für Wettereinbrüche der „kleinen Eiszeit“ verantwortlich. Das neue Medium der Druckerpresse förderte die Verbreitung solcher Bilder. Gerade Protestanten wussten sie zunächst führend zu bedienen. 

Mangelnder Glaube? Vielleicht eher ein Auseinanderfallen alter Selbstverständlichkeiten und ein neues Durchmischen von Religion und Interessenspoltik. 

Dualistisches Denken fördere Verschwörungsglauben, so Butter: So sei es auch in den Hochphasen des Kalten Krieges gewesen. Da war es allgemein anerkannt, dass die Gegner die Welt mit ihren finsteren Fäden überziehen und vernichten wollten. Wer nicht daran glaubte, galt schon fast als verrückt. Insofern würden jetzt nicht mehr, sondern eher weniger Menschen an solche Mythen glauben, meint Butter. 

Spätestens seit den 1980-er Jahren hätte sich das gerade im Westen gewandelt. Nun seien die Mythen mit Echsenwesen und manipulierenden Chips zurückgekehrt. Ein Drittel der Deutschen glaube nach Butter an solche Mythen. Sie seien Anzeichen für die demokratiegefährdendes Auseinanderdriften der Gesellschaft, obwohl viel weniger Menschen daraus Konsequenzen für ihr Handeln zögen. Dies hielte sich in Deutschland noch im Rahmen.

Einschränkung von Grundrechten

Die frühere Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger wiederum legte bei einer weiteren Online-Veranstaltung der Stadtakademie ihren Finger gerade in diese Wunde: Sicher würden wir seit Beginn der Corona-Krise gravierende Grundrechtseinschränkungen erleben. Einerseits hat die Krise gezeigt, dass unsere Demokratie auch handlungsfähig ist. Doch seien Parlamentarier erst kürzlich in diese Entscheidungen mit eingebunden worden, die eine starke Einschränkung von Grundrechten bedeuten. Das neue Infektionsschutzgesetz vom 18. November aber hole nun die dringend notwendige Einbindung der Legislative nach. Doch gelten auch hier Verhältnismäßigkeit und Gleichbehandlung, so Leutheusser-Schnarrenberger.

Die Corona-Pandemie erfordere zudem, eine „Kultur der Rücksichtnahme gegenüber Schwächeren neu einzuüben“, ergänzte Pöhlmann in seinem EZW-Beitrag: „Die Antwort der Kirchen und Gemeinden sollte sein, mit Information und Orientierung, mit Aufklärung und Protest, mit Empathie und Zuhören, mit Gebet und Segen ein starkes Zeichen gegen das Klima des Hasses und Misstrauens zu setzen.“ Pöhlmann sieht also Christen in der Pflicht, gegen Verschwörungsglauben und Esoterik deutlich Widerspruch einzulegen.  

Weitere Beiträge des EZW-Sammelbandes zeigen den Umgang verschiedener Religionen und Frömmigkeitsformen weltweit mit der Corona-Krise. Natürlich vermissten viele Menschen auch die traditionellen rituellen Formen wie althergebrachte Gottesdienste. Doch gerade Glaubensformen, denen die genaue Befolgung von Ritualen wichtig sei, wären zu weiteren Corona-Ansteckungsherden geworden. 

Krise als Bewährung?

Nicht nur glaubensferne, sondern gerade auch strenggläubige Menschen könnten solche Gefahren gering schätzen. Gott helfe ja. Sie sehen sich selbst in extremen Formen als erlöste Elite nahe dem Heil. Krisen könnten ihnen nichts mehr anhaben, sondern seien dämonische Versuchungen. Für den christlichen Glauben biete sich die „Chance, die mit der Corona-Pandemie ausgelösten Unsicherheiten, den eigenen Kontrollverlust zu reflektieren und auszuhalten“, hält Pöhlmann dagegen. Eine positive Möglichkeit dazu biete sich in menschenfreundlicher, zugewandter Beratung und Seelsorge. Susanne Borée

Jeannine Kunert (Hg.): „Corona und Religionen – Religiöse Praxis in Zeiten der Pandemie“ EZW-Texte 268, 2020, 182 Seiten, ISSN 00850357.

https://www.evangelische-stadtakademie-nuernberg.de/