Editorial: Das Dunkle aushalten

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Susanne Borée Editorial Hintergrundbild Kraus

Bereits Anfang November gingen in den Gärten meiner Nachbarschaft die Lichterketten an. Uff, so früh schon soll die Weihnachtszeit beginnen? Dies hätte mich in den vergangenen Jahren genervt. 

Doch nun ist bekanntlich alles anders. Jetzt sehe ich die Lichterketten durch den Novembernebel fast schon als Gruß aus einer helleren Zeit. Was im März und April das gemeinsame Singen vom Balkon und aus den geöffneten Fenstern war, das scheint jetzt ein solcher stummer, aber beredter Lich-tergruß zu werden. Bereits zum Martinstag luden Kindergärten dazu ein, ein Licht sichtbar ins Fenster zu stellen, da ja nun der Laternenzug unmöglich war.

Es ist keine vorverlegte Adventszeit, die zeigt, dass wir nicht warten können – so wie die ersten Weihnachtsmänner in den Supermärkten nach den Sommerferien. Nein, es zeigt einen Gruß der Nachbarn in einer Zeit, in der Einsamkeit oder Rückzug als solidarisch und verantwortungsvoll erscheinen.  

Allerdings befinden sich meine Lichterketten und -sterne noch auf dem Dachboden. Wie jedes Jahr werde ich sie erst am Tag nach dem Ewigkeitssonntag anschalten – und damit meinerseits Grüße zum Gegenüber schicken. Denn für mich sind sie zu sehr adventliche Erscheinungsformen, um vorher zu erstrahlen. Ich muss nicht sofort auf den Lichtergruß antworten, sondern kann das Dunkel eine angemessene Zeit aushalten. 

Begrenzungen erspüren

Am liebsten wäre es mir ohnehin – in diesem Jahr mehr denn je – dass wir die dunklen Monate überspringen könnten und gleich ins neue Frühjahr durchstarten. Allerdings wäre es sicher langweilig und vielleicht sogar trist, wenn die Sonnenzeit keine Begrenzungen hätte. Ich bin wohl zu sehr an den Lauf der Jahreszeiten gewöhnt. Es lässt sich sowieso nicht ändern.

Dem Dunklen auf den Grund sehen

„… ich seh mein Dunkel leben. / Ich seh ihm auf den Grund: / auch da ists mein und lebt.“ So Paul Celan, an dessen 100. Geburtstag in dieser Woche erinnert werden soll (Seite 15), in dem Gedicht „Von Dunkel zu Dunkel“. 

Und dann hoffen wir darauf: Der Lauf des Jahres zeigt, dass dieses Dunkel nicht das letzte Wort hat. Es wird durch das aufstrahlende Licht begrenzt. Es gibt den Kerzenschein und den Glanz meiner Lichtersterne bald an meinen Fenstern. Und dann Weihnachten, das die Nacht durchbricht. Er läutet  den Wendepunkt ein, an dem die Tage wieder länger werden.