Lebensbaum zeigt Trauer um Bellette

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Jüdischer Friedhof in Worms
Blick auf den Jüdischen Friedhof in Worms.Katalog Seite 370; Bildnachweis: GDKE Rheinland-Pfalz, Jürgen Ernst 2019

Lebenslinien: Ausstellung dokumentiert den Schmerz um ermordetes jüdisches Mädchen

Er ist unscheinbar und beschädigt – ein Steinpfeiler mit einem kaum mehr erkennbaren Lebensbaum und verwitterten Buchstaben. In der prunkvollen Mainzer Landesausstellung „Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht“ mit ihren rund 330 Exponaten aus den fünf Jahrhunderten zwischen Karl dem Großen und den Stauferkaisern, mit ihren Goldschätzen und prachtvollen Liederhandschriften wie dem Codex Manesse fällt es kaum auf. 

Sicher ist die Landesausstellung am Rhein auch jetzt von den Corona-Beschränkungen betroffen wie so viele kulturelle Ereignisse landauf, landab. Und doch ist die Stele besonders anrührend: die Totenklage um ein 13-jähriges Mädchen. Die Ausstellung ist an sich bis April geplant. Vielleicht lassen sich ja doch noch diese Spuren weiterverfolgen.

Der Wormser Rabbi und Mystiker Eleasar ben Juda ben Kalonymos (1165–1238) ist wahrscheinlich der Auftraggeber. Noch mehr als 30 Jahre nach ihrer Ermordung setzte er seiner ältesten Tochter Bellette (oder Bellet) auf diese Weise wohl ein Denkmal, wie man aus der Namensgleichheit erschließt. Es entstand um 1230, also vor dem Tod Eleasars. 

Bei dem „Kreuzzugspogrom“ von 15. November 1196 ermordeten zwei Männer die junge Bellette zusammen mit ihrer sechsjährigen Schwester Hanna und der Mutter Dolza. Eleasar selbst, sein Sohn Jakob und einige seiner Schüler überlebten verletzt. Einer der Täter wurde später gestellt und bestraft.

Zuvor hatte die Familie bereits im Vorfeld des Dritten Kreuzzuges 1188  in Mainz gewalttätige Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung erfahren. Sie fand zusammen mit dem Großteil der Gemeinde auf der Burg Münzenberg in der Wetterau Schutz. Kuno I. von Münzenberg war als Reichsvogt für den Schutz der Juden und die Einziehung der Judensteuer zuständig. Er nahm offenbar seine Aufgabe ernst. Er schützte nicht nur auf seiner Burg jüdische Flüchtlinge bei dem
Kreuzzugspogrom von 1188. Schon zuvor, um 1180, hatte Kuno Vertriebene auf seinem Gebiet angesiedelt.

Die Ausstellung zeigt auch ein so genanntes Brakteat aus dieser Epoche. Das sind Münzen aus einem dünnen Silberblech, einseitig und auf einer weichen Unterlage geprägt. Das Besondere: Auf einer Münze findet sich mit hebräischen Schriftzeichen der Name „David ha Cahen“. Er muss wohl enge Beziehungen zu dem dort ebenfalls abgebildeten Münzherrn gehabt haben. 

Vielleicht hielt auch Eleasar ben Juda in der Wetterau solch eine Münze in der Hand. Um 1190 bekam er dann die Stelle eines Rabbiners der jüdischen Gemeinde in Worms und gründete dort eine eigene Lehrstätte. Sie führte besonders jüdische Mystik weiter. Sein bedeutsamstes Werk klingt jedoch ziemlich nüchtern: der Rokeach, Salbenmischer. Eleasar erhielt sogar seinen Beinamen danach. Darin behandelt er Festtagsvorschriften und Speisegesetze. Wichtiger ist das Vorwort: Die vorangestellten Abschnitte über Gottesfurcht, Demut ziehen Verbindungslinien zwischen der jüdischen Ethik und der Halacha, der Auslegung der Gebote im Talmud. 

Und Eleasar dichtete teils bewegende poetische Texte, die gar in der Synagoge verlesen wurden. Insgesamt gibt es 58 Schriften von ihm. Auf seine ermordete Frau Dolza dichtete er ein Loblied.

Bündnis der Gemeinden

Auf den Versammlungen der Gemeinden der so genannten „SchUM- Städte“ vertrat Eleasar die Gemeinde von Worms. Unter diesem Kürzel sind die hebräischen Anfangsbuchstaben der drei jüdischen Gemeinden Speyer, Worms und Mainz zusammengefasst. Denn die drei großen jüdischen Gemeinden am Rhein hatten enge Verbindungen miteinander. Es gab immer wieder gemeinsame Treffen, auf denen auch Recht gesprochen wurde. Rabbi Eleasar unterzeichnete mit anderen die Beschlüsse der Versammlung.

Das Bündnis der SchUM-Gemeinden erlangte überregionale Bedeutung, und sie stützten auch die Macht der hochmittelalterlichen Herrscher. So hatten sie wesentlichen Anteil daran, dass diese drei urbanen Zentren in der damaligen „Kern- landschaft des Reiches“ besondere Bedeutung erlangten. Denn diese jüdischen Gemeinden waren auf die Herrscher und die örtlichen Bischöfe angewiesen, die sie unterstützten. Bernd Schneidmüller, der die Schau wissenschaftlich konzipiert hat, erklärt: „Zum Glanz der Herrscher tritt in der Mainzer Ausstellung die Kraft der Untertanen. Gelungene Königs- oder Kaiserherrschaft erforderte die Einbindung von Geistlichkeit und Adel“, und die Kraft der jüdischen Gemeinden.

In Mainz ist eine jüdische Gemeinde spätestens um 950 fassbar. Sie
wurde zur „Muttergemeinde“ der Nachbarstädte. Um das Jahr 1000 gründete sich eine Gemeinde in Worms. Ausdrücklich zur „Ehre“ (honor) seiner Stadt Speyer schützte Bischof Rüdiger Huozman die Juden, wie er es eigens in der Schutzurkunde von 1084 vermerkt, welche die Gemeinde begründet.  

Diese Niederlassungen in den aufstrebenden Rhein-Zentren boten den jüdischen Familien besonders gute wirtschaftliche Chancen. In großer Entfernung zu den traditionellen jüdischen Zentren mussten sie ihre Identität beweisen. Sie mussten eigenständig Entscheidungen in religiösen Belangen treffen.

Vor dem Ersten Kreuzzug 1096 begannen die Verfolgungen. Gerade die Bischöfe dieser Metropolen versuchten die Juden vor Ausschreitungen zu schützen – was allerdings nicht immer gelang.

In Worms wohnten die jüdischen Einwohner am nördlichen Stadtrand. Ihre Häuser bildeten einen Teil der Stadtmauer, so dass sie gleich die Stadt mit verteidigten. Die Gemeinde bestand bis ins 20. Jahrhundert. Besonders erinnerungsreich ist der Wormser jüdische Friedhof. Er überdauerte die Zerstörungen der Schoa. Einige Gräber reichen bis ins 12. Jahrhundert zurück. Leider ist das Grab Rabbi Eleasars, der dort bestattet sein muss, nicht mehr auffindbar. 

Schon früh, bereits zur Zeit des Rabbi Eleasar ben Juda 1212/13, bauten die Juden in Worms die „Frauenschul“. Das war ein Gebets- und Versammlungsraum für Frauen als Anbau an die Synagoge. Es ist die älteste bekannte Einrichtung ihrer Art in Mitteleuropa. So konnten Frauen – wenn auch nur am Rande – an den Gebeten in der Synagoge teilhaben. Dort fand sich auch die Bellette-Stele. Später war sie im Mauerwerk verbaut. 

Nach der aktuellen Corona-Krise ist die Ausstellung im Landesmuseum Mainz auch regulär noch bis 18. April 2021 vorgesehen. Weitere Informationen über die aktuelle Situation unter Tel.: 06131-28570 oder im Internet: www.kaiser2020.de. Dort gibt es auch Filme zur Ausstellung und interaktive 3D-Modelle der mittelalterlichen Orte. Katalog 560 Seiten, wbg Theiss 2020, ISBN 978-3-8062-4174-7, 48 Euro im Buchhandel, zurzeit vergriffen, aber gerade im Nachdruck.