Gieriger Reformator

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Hilary Mantel: Spiegel und Licht, Biografie über Thomas Cromwell. Repro evso
Hilary Mantel: Spiegel und Licht, Biografie über Thomas Cromwell. Repro evso

Lebenslinien: Thomas Cromwell gestaltete englische Erneuerung in Kirche und Wirtschaft

„Ich habe meinen Wünschen niemals Grenzen gesetzt“, bekennt er am Ende. „So wie ich nie in meiner Arbeit nachgelassen habe.“ Thomas Cromwell setzte wesentliche Akzente, um England in einen modernen Staat umzuwandeln. Er gestalte die anglikanische Reformation mit. Maßlos sammelte er Ämter und Würden, Güter und Besitz an – und fiel tief. Der historische Roman „Spiegel und Licht“ von Hilary Mantel beleuchtet seine Macht und seinen Fall in allen Facetten.

15 Jahre hat die Schriftstellerin mit dem engen Ratgeber Heinrichs VIII. aus dem 16. Jahrhundert verbracht. Rechtzeitig zur Coronazeit erschien ihr letzter Teil des Zyklus über Thomas Cromwell (1485–1540). Ein ungeahnter Aufstieg gelang dem Sohn eines Schmieds – wie Mantel betont war der Vater ein Alkoholiker und Gewalttäter. Früh verließ Thomas den Heimatort Putney, heute ein Stadtteil im südwestlichen London. Er verdingte sich als Söldner in Italien. Später schuf er sich Wohlstand als Tuchhändler, zwischendurch studierte er Jura.

Thomas Cromwell stieg im Dienste des englischen Kardinals Wolsey auf – und nutzte dessen Sturz als eigenes Sprungbrett. Er gewann dennoch die Gunst Heinrichs VIII., des „Blaubarts“ mit den vielen Frauen. Doch dies sind bei Hilary Mantel Themen der ersten Romanteile.

Cromwell brachte das Parlament 1534 dazu, die so genannte Suprematsakte anzuerkennen. Dadurch wurde der König anstatt des Papstes zum Oberhaupt der Anglikanischen Kirche. So ermöglichte Cromwell die Scheidung Heinrichs von seiner ersten Frau Katharina. Und die Hochzeit mit Anne Boleyn. 

„Aber das Gesetz ist kein Instrument, um die Wahrheit zu finden“, bekennt Cromwell kurz vor seinem Tod. Schon 1536 inszenierte er auch Anne Boleyns Sturz aus dem Licht. „Die kürzlich Verstorbenen“, so nennt das Personenverzeichnis des Romans die hingerichtete Anne und ihre angeblichen Liebhaber mit feiner Untertreibung. Thomas Cromwell setzte ungebremst seinen Aufstieg zu Macht und Reichtum fort. Gleichzeitig hatte er auch die helle Vision eines moderneren Landes. Er sieht das Land „im Spiegel der Zukunft“. Ist der Fortschritt oder die Religion das Licht? Seine unzähligen Ämter boten die Grundlagen für seine Macht, aber auch für zukunftsweisende wirtschaftliche und soziale Reformen. 

Sein König wiederum gab sich nun dem kurzlebigen Glück mit seiner dritten Frau Jane Seymour hin. Während sie zum Katholizismus zurückkehren wollte, organisierte Cromwell die anglikanische Reformation. Doch Jane starb im Oktober 1537 im Kindbett – als einzige Frau von Heinrich betrauert. Edward, der einzig legitime, aber schwache Sohn Heinrichs überlebte. 

Als Generalvikar hatte Cromwell im Namen des Königs absoluten Einfluss auf die Kirche. Er verpflichtete erstmals die Pfarrer dazu, ihre Geburten, Taufen, Hochzeiten und Todesfälle zu dokumentieren. 

Welcher Glaube galt

Ferner ließ er die Klöster umwandeln und die Reliquien rücksichtslos zerstören. Er vergaß weder Heinrich noch sich selbst, als er die Klostergüter verteilte. Auch dies spiegelt Cromwells Maßlosigkeit. Viel Besitz gab er an den Landadel weiter – das neue Rückrat des Landes. Der Hochadel fühlte sich zurückgesetzt.

Cromwell schuf eine neue Verwaltung der Staatseinnahmen. Doch wie protestantisch oder katholisch sollte die anglikanische Kirche werden? Außer der Loslösung vom Papst und der Auflösung der Klöster war nichts geklärt. Der König dachte da traditionell, Cromwell eher fortschrittlich. Das Parlament schrieb 1539 die Überzeugung fest, dass beim Abendmahl die reale Wandlung erfolgte, es festigte die Ohrenbeichte und das Keuschheitsgelübde. Es verbot die Ehe der  Priester. Protestanten, die weiter gehen wollten, wurden verfolgt, inhaftiert und hingerichtet. Dies drohte genauso Katholiken, die am Papst festhielten – und an Englands Gegnern.

Cromwell erscheint in dem Roman nicht nur als Intrigant und gieriger Machtmensch. Er hat eine Vision genauso wie seine Albträume aus der Vergangenheit Er wollte nie dem Vater gleichen – doch der König übernahm diese Rolle. 

Immer mehr gab sich Heinrich dunklem Jähzorn oder der Willkür hin. Er vertraute nur noch wenigen. Kein Zweifel: Er brauchte eine neue Frau. Nun vermittelte Cromwell Kontakte zu Anna von Kleve – auch um die Bindung  zu den deutschen Protestanten zu stärken. 

Ihr Porträt von Hans Holbein d. J. gefiel Heinrich sehr. Doch beim ersten Treffen verspürt der König sofortigen Widerwillen gegenüber Anna. (Das regt zum Nachdenken an, ob das Holbein-Porträt Cromwells oben, ihn besser traf. Doch ist es das wesentliche zeitgenössische Bild und wohl wenig geschönt). 

Heinrich ließ die Ehe ein halbes Jahr nach der Hochzeit für ungültig erklären. Anna erhielt einigen Besitz, durfte aber England nicht verlassen. Sie überlebte Heinrich um zehn Jahre. Dieser heiratete fast sofort die junge Hofdame Katherine Howard. 

Da war Cromwell schon im dunklen Tower. Die hochadlige, katholische Partei machte Cromwell für die Politik des Königs verantwortlich. Für Heinrich wurde er zu stolz und gierig. Religiös zählte für ihn der Glaube an Gottes Vergebung. Zu protestantisch! Ende Juli 1540 ließ Heinrich ihn hinrichten. Zuvor bekannte sich Cromwell zum Katholizismus. Warum? Es bleibt vage. 

Dennoch ist Mantels Werk akribisch recherchiert. Erst wenn sie sicher sei, dass es keine weiteren Informationen gibt, erfinde sie etwas dazu, so die Autorin. Nicht historische Nebenfiguren sind eigens gekennzeichnet. Und trotzdem: Nach unzähligen Intrigen wünscht man sich weniger Details – zumal die kühle Distanziertheit sich durch sie zieht. Die Dramatik des Kampfes um den Machterhalt und Reformen wird erst beim Blick auf die Historie deutlich. Cromwell scheint seine Gedanken vor-analytisch selbst zu spiegeln, dann wieder mit seinem Blick zu verwischen. Gleichzeitig arbeitet er an unzähligen Aufgaben, spinnt seine Netze – und bleibt in der kühlen Sprache der Macht ohne eigene Wärme. Nur sein Ende sei da ausgenommen.

Das  detaillierte Personenverzeichnis ist bitter nötig bei der Fülle der Personen (und ihrer vielen Titel). Aber auch, weil viele kaum ein Gesicht gewinnen. Ihre Kleidung scheint Cromwell als Ex-Tuchhändler wichtiger zu sein als ihr Wesen. Selbst die Gegner Cromwells gewinnen wenig Farbe. Spiegelt das seine Missachtung anderer? Rebecca Gablés „Der dunkle Thron“ spielt zur gleichen Zeit, die Hauptfigur aus dem Waringham-Clan ist erfunden. Doch zeichnet sie ihre Figuren farbiger. Im Zweifel bleibt die Erinnerung an sie.

Von Thomas Cormwell blieb nur sein Urgroßneffe Oliver. Der sollte ziemlich genau ein Jahrhundert später das Parlament gegen die absolutistischen, eher katholischen Stuart-Könige führen – aber das ist eine neue Geschichte.

Hilary Mantel: Spiegel und Licht, 1104 Seiten, Dumont-Verlag 2020, ISBN 978-3-8321-9724-7, 32 Euro.