Neue Zugänge zur alten Diskussion um die „Entstehung der Bibel“, Teil II
Formte das Babylonische Exil den Glauben des Alten Testamentes im einmaligen Maße? Die Priesterschrift war in Teilen bereits im Babylonischen Exil entstanden, so Konrad Schmid zur „Entstehung der Bibel“. Später verarbeiteten die Gelehrten sie in vielen Teilen der fünf Bücher Mose. Etwa im ersten Schöpfungsbericht und in der Sintflut-Erzählung setzte sie sich intensiv mit der babylonischen Geisteswelt auseinander. Das „Judentum“ als abgegrenzte Gruppe mit dem Glauben an einen einzigen allmächtigen Gott entwickelte sich erst langsam – und nahm Impulse auf. Nach der Eroberung Babylons erlaubten die Perser eine Rückkehr der jüdischen Verschleppten – ja sogar der Tempel in Jerusalem konnte wieder neu errichtet werden.
Ist ein Überblick zur Entstehung der Bibel mehr als eine akademische Diskussion über eine längst vergangene Zeit? Was bleibt da für das Heute? Die Bücher des Alten Testaments sprechen noch einmal ganz neu zu uns, wenn wir sie als Ergebnisse eines langen Ringens um den Zweck einer als sinnlos empfundenen Entwicklung deuten. Da setzte sich nicht eine Meinung durch, sondern viele Stimmen sprachen.
Sie stritten miteinander, wie Identität und Glaube erhalten werden kann – als alles so sinnlos schien. War es nicht hilfreicher, die Überzeugungen der erfolgreicheren Nachbarn aufzunehmen? Sollte nicht ein dauernd grollender, aber erwiesenermaßen erfolgloser Vulkan- und Stammesgott in dem glitzernden Götterhimmel eines glorreichen und dabei so weltoffenen Großreiches Wohnung nehmen? Wozu nutzte der Wiederaufbau des Tempels – in einer Zeit, in der die Menschen ums Überleben kämpften?
Dabei bestand während der Königszeit, also vor dem Exil 587 vor Christus, offenbar kein Glaube einer erwähnenswerten Gruppe an den unsichtbaren und allmächtigen Jahwe: Die Archäologen bestätigen ältere Vermutungen, dass „Segens- und Fruchtbarkeitsikonen, Schutzembleme, Symbole von Göttinnen und Gottheiten“ vorherrschten.
Die Priesterschrift wurde fortgeschrieben. Sie geht „davon aus, dass mit der Perserherrschaft und der mit ihr verbundenen kultischen Toleranz gegenüber dem Judentum das heilvolle Ziel der Geschichte Jhwhs mit Israel und der Welt erreicht ist“, so Schmid. Noahbund und Abrahambund sind da „eine einseitige Heilszusage vonseiten Gottes“ für alle Völker und für Israel. So integrierend dies erscheint, ist es doch ein riesiger Anspruch Gottes, der mit seinem Volk besiegt war, an die Welt.
Dieser Meinung widersprachen andere Bücher. Es gab ja bereits das deuteronomische Gesetzwerk. Daran schlossen eher exklusive Konzepte an: „Gott verpflichtet sein Volk auf sein Gesetz, dessen Befolgung Wohlergehen nach sich zieht, während die Nichtbefolgung im Unheil mündet. Ohne eigenes Königtum und ohne eigenes Land steht Israel nach wie vor unter dem Gericht, das es selbst verschuldet hat“, so Schmid. Und andersherum bedeute es: „Ausbleibendes Heil lässt auch auf die nach wie vor fehlende Orientierung Israels an Gottes Willen schließen.“
In der Perserzeit gelang eine „Formierung der Tora als ein abgeschlossenes Textkorpus“, obwohl sie so unterschiedliche Texte und Ausrichtungen vereint. Warum jetzt? Im Perserreich gab es kein einheitliches Recht. Jedes Volk konnte nach eigenen Rechtsordnungen leben, die zentral autorisiert werden mussten.
Doch immer schreiben innerbiblische Kommentare die bestehenden Rechtsordnungen fort. Ähnlich entwickelten sich die Prophetenbücher. „Mit dem Wegfall der vormals schlechterdings normativen Instanz des Königtums bei gleichzeitigem Bewusstwerden der grundsätzlichen Limitierung des menschlichen Urteils- und Erkenntnisvermögens wuchs den zunehmend autoritativ werdenden Schriften geradezu von selbst eine höhere Verbindlichkeit zu: Die versagende ‚Innensteuerung‘ des Menschen ließ sich durch Beachtung heiliger Texte kompensieren“, so Schmid. Wie Menschen mit Autonomie und Verantwortung umgehen – ist diese Frage nicht immer noch aktuell?
Offen für Neudeutung
Nicht genug damit. Bald setzte eine neue Stufe, eine „Neuerzählung und Fortschreibung bereits bestehender Schriften“ in Chronik, Esra und Nehemia ein. David und Salomo sind in den Chronikbüchern besonders weltoffen. Die Chroniken begründen die Erwählung Israels in der Erzväterzeit. Exodus und Landnahme treten in den Hintergrund. Sowohl Israel als auch Juda ist am Bund beteiligt. Jede Generation ist direkt Gott verantwortlich, Schuld kann nicht weitergegeben werden.
David und Salomo erscheinen in den Chroniken „als Stifter des Tempelkultures“. Auch im Nordreich, in Samaria, galt die Tora. Doch in ihrer Version begründete sie, warum auf dem Berg Garizim und nicht in Jerusalem der einzige legitime Ort für den Tempel Gottes war.
Das Hiobbuch dachte weiter: „Wie lässt sich die Gottheit Gottes denken angesichts von Katastrophen, die selbst jemanden wie den gerechten Hiob treffen können?“ Es kritisiert die rechtgläubigen Deutungen der Freunde. Sie greifen nicht. Die Wette zwischen Gott und Satan führt das Leiden ins Absurde, doch wächst der Geschlagene daran.
Innerhalb weniger Jahre brach das Perserreich unter dem Ansturm Alexanders des Großen zusammen. Die neuen hellenistischen Herrscher hatten einen umfassenderen intellektuellen Anspruch. Doch konnten sie umso weniger verstehen, wie ein kleines Volk noch an einen so rückschrittlichen Gott glaubte.
Apokalyptische Texte beschäftigen sich mit Unterdrückung und Zerstreuung als Zeichen des Weltuntergangs. Das Gericht sollte wieder gerechte Verhältnisse schaffen. Sie schlossen an prophetische Visionen an. Eine Gegenposition beschritt der Prediger, der mit den wohl nur wenig älteren Sprüchen die Grenzen menschlicher Erkenntnis betont, aber die praktische Philosophie schätzt. Gerechter Zorn und Augenmaß streiten – und ergänzen sich.
Gleichzeitig entstand die Septuaginta für Juden, die nur noch griechisch verstanden. Legenden begründeten die Qualität der Übersetzung aufwendig. Philo von Alexandria bemüht sich um „die tiefere Bedeutung von Aussagen, Worten und Wendungen, gerade auch solchen, die auf den ersten Blick unglaubwürdig, banal oder überflüssig erscheinen“. Auch hier geht es darum, wie die Texte in seinem Heute neues Leben gewinnen.
Die in Qumran gefundenen Texte entstanden vom dritten vorchristlichen bis zum ersten nachchristlichen Jahrhundert und zeigen, dass die Tora und die Propheten als verbindlich galten. Die Zusammensetzung der Psalmen variiert noch stark. Den Zyklus eröffnet bald ein Programm über den Lebenswandel der Gerechten.
Konrad Schmid und Jens Schröter: Die Entstehung der Bibel. Beck-Verlag, ISBN 978-3-406-73946-0, 32 Euro.