Andacht: Die Frage nach der Gerechtigkeit

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Als es nun Abend wurde, sprach der Herr des Weinbergs zu seinem Verwalter: Ruf die Arbeiter und gib ihnen den Lohn und fang an bei den letzten bis zu den ersten.

Da kamen, die um die elfte Stunde angeworben waren, und jeder empfing seinen Silbergroschen. Als aber die Ersten kamen, meinten sie, sie würden mehr empfangen; und sie empfingen auch ein jeder seinen Silbergroschen. Und als sie den empfingen, murrten sie gegen den Hausherrn und sprachen: Diese Letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und die Hitze getragen haben. Er antwortete aber und sagte zu einem von ihnen: Mein Freund, ich tu dir nicht Unrecht. Bist du nicht mit mir einig geworden über einen Silbergroschen? Oder habe ich nicht Macht zu tun, was ich will, mit dem, was mein ist? Siehst du darum scheel, weil ich so gütig bin?

Matthäus 20,8–13.15

Ausgesprochen sympathisch ist er. Der junge Chef, der uns Pfarrerinnen und Pfarrer durch das Großraumbüro seines Startup-Unternehmens lotst. Flache Hierarchien, transparente Strukturen, Eigenverantwortlichkeit der Projektteams – damit hat der Mittdreißiger das Softwareunternehmen innerhalb weniger Jahre zu einem lukrativen Investment gemacht. Einen Tariflohn gebe es in der Branche nicht, gesteht er freimütig, der Markt bestimme das Gehalt. Deshalb sei man von der ursprünglichen Idee wieder abgerückt, auch die Gehaltsstrukturen innerhalb des Teams transparent zu machen.

Hätte es ihm der Weinbergsbesitzer im Gleichnis doch mal gleichgetan! Warum hat er denen, die den ganzen Tag geschuftet haben, ihren Lohn nicht zuerst ausbezahlt und sie dann gehen lassen? Dann hätten sie gar nicht mitbekommen, dass all die anderen das Gleiche erhalten. Wie war das mit der Transparenz bei den Gehältern?! Dabei handelt der Herr des Weinbergs ökonomisch durchaus vernünftig. Angebot und Nachfrage regulieren nun einmal den Preis: Die Knappheit der Ware Arbeitskraft am Abend treibt deren Preis in die Höhe. Auch sonst ist ihm nichts vorzuwerfen: er holt Arbeitslose von der Straße, hält Verträge und Abmachungen ein und zahlt einen fairen Lohn. Trotzdem: Was ökonomisch vernünftig ist, widerspricht bisweilen unserem Gerechtigkeitsempfinden.

Der Weinbergsbesitzer freilich legt es ganz bewusst darauf an, zu provozieren. Er fordert den Widerspruch geradezu heraus. Schreit nicht alles danach, dass hier eine große Ungerechtigkeit geschieht?

„Gut gemeint, aber auch gerecht?“ – In München (aber sicher nicht nur dort!) ist gerade ein heftiger Streit darüber entbrannt, ob es gerecht ist, wenn die Stadt einem Großteil der Eltern die Kita-Gebühren erlässt oder ermäßigt. Einzelne Träger wollen dagegen jetzt vor Gericht ziehen. Wo kommen wir denn hin, wenn alle das Gleiche bekommen? Offensichtlich müssen wir gewisse Ungleichheiten anerkennen, damit Gleichheit unter uns Menschen lebbar wird.
Was mir an unserem Gleichnis deutlich wird: Jesus fordert dazu auf, mit anderen Augen auf unsere Welt zu sehen. Und diese neue Sichtweise, diese veränderte Perspektive lässt sich nicht gesellschaftlich verordnen. Sie richtet sich immer an den Einzelnen, verlangt individuelle Ein-sicht. Deshalb wendet sich der „Herr“ an „einen“ von denen, die sich ungerecht behandelt und benachteiligt fühlen.

Mensch, stell‘ dir eine Welt vor, in der Güte und Gerechtigkeit Hand in Hand gehen! Eine Welt, in der das Prinzip von Leistung und Lohn nicht außer Kraft gesetzt, aber in einen größeren Horizont gestellt wird: den Horizont der Liebe und Barmherzigkeit. Damit eine solche Vision Wirklichkeit werden kann, braucht es verantwortungsvolle und gütige Weinbergsbesitzer. Und Mitarbeitende, die sich und andere mit den Augen ihres Herrn sehen.

Pfarrer Jochen Wilde, München