Wanderungen im Glockenschlag der Zeiten

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Thomas Greif mit der Glocke aus Breslau. Foto: Borée
Thomas Greif mit der Glocke aus Breslau. Foto: Borée

Zehn Museen zeigen länderübergreifend protestantische Migrationsgeschichte

Die Glocke aus Breslau zeigt, was die Stunde geschlagen hat: Museumsleiter Thomas Greif im Rummelsberger Diakoniemuseum versetzt sie in Schwingungen, denn sie bildet dort einen Mittelpunkt der Ausstellung „Evangelische Migrationsgeschichte(n)“. Nach dem Beginn der dortigen Schau ziehen jetzt Protestantische Museen europaweit mit ihren jeweiligen Perspektiven nach.

Seit Jahrhunderten stellten Menschen ihre Religion über ihre Heimat. In den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen Nationale Gründe die Oberhand. Doch die Diakonissen trugen ihre Glocke nicht selbst bis nach Unterfranken, gibt Greif zu. Sie ist nämlich derart schwer, dass sie sich kaum von einer Person anheben lässt. Doch fand sie sich später auf dem Hamburger Glockenfriedhof und gelangte schließlich um 1956 ins Feierabendhaus der Diakonissen nach Rummelsberg.

Nicht nur dies schafft Verbindungen zu ganz verschiedenen Perspektiven und Epochen. Die Wanderbewegungen aus konfessionellen Gründen beginnen gleich mit der Reformation mit dem slowenischen Prediger und Übersetzter Primus Truber (1508–1586). Er musste nach Rothenburg und Tübingen ausweichen. Seinen Zeitgenossen Paul Wiener (1495–1554) aus der Krain zog es nach Siebenbürgen, wo er als Bischof wirkte.

Viele Ergebnisse der Ausstellungen standen bereits im Mittelpunkt eines Symposiums in Neuendettelsau, zu dem sich die meisten Beteiligten persönlich trafen. Nun gewinnen die Schicksale vieler Migranten ein persönliches Gesicht. 

Bereits in den Jahrzehnten nach dem Dreißigjährigen Krieg kamen etwa in den immer noch verwüsteten Orten Frankens immer mehr Auswanderer an: 16 Biografien – acht Hugenotten und acht Exulanten – stellt das Museum Kirche in Franken in Bad Windsheim in seiner Schau „Zuwanderer in Franken im 17. Jahrhundert“ vor. Damit nimmt es ebenfalls an dem weiten Bogen der „Migrationsgeschichte(n)“ teil. 

Schon die Recherche mancher Schicksale war aufwendig, erklärt Claudia Berwind vom Kirchenmuseum: Schließlich sollten sie möglichst übergreifend sein. Mit einer Datenbank der Gesellschaft für Familienforschung lässt sich privat nach Exulanten-Vorfahren forschen.

In Ihrer Heimat geblieben ist etwa ein Schellenstock, der nun eigens zu der Schau aus dem oberösterreichischen Wels kam. Auch er ist nicht einfach mitzunehmen. Die Schellen riefen zum Aufstand der Bauern dort auf: Das begann um 1626 – also rund ein Jahrhundert nach den deutschen Bauernaufständen – auch gegen bayerische Fremdherrschaft und leibherrliche Bindungen sowie für Religionsfreiheit. Nach der Niederschlagung und vor allem nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges mussten immer mehr gehen.

Das Museum zeigt auch die Unterschiede zwischen beiden Einwanderergruppen: Die Exulanten sprachen Deutsch – wenn auch für fränkische Ohren einen merkwürdigen Dialekt – und waren gut lutherisch. Die reformierten Hugenotten, die nach 1685 kamen, erschienen richtig fremd: Die Schau zeigt auch ein Schwabacher Kirchenbuch ein-
er Hugenotten-Gemeinde. Erst exakt im Jahr 1854 wechseln dort
die Einträge von der französischen zur deutschen Sprache. Dann erhielten sie noch staatliche Unterstützung, die sich wohl auch manche Einheimische gewünscht hätten! Manche damaligen Vorurteile lassen sich nach 2015 bruchlos übernehmen.

Schnell fasste Johannes Schrenck (1634–1698), ein Müller aus dem Waldviertel, erfolgreich in Mittelfranken Fuß. Seine Mühle findet sich nun im Freilandmuseum. Doch eine Leidensgenossin eine Generation zuvor, Cordula von Pranckh (1584–1640) aus der Steiermark, kämpfte in Nürnberg verzweifelt gegen säumige Schuldner und damit gegen ihre Verarmung – zumal sie alleinstehend blieb. Sie zeigen: Es musste nicht immer so sein, dass einfachere Menschen länger brauchten, um sich neue Existenzen aufzubauen. 

Franken bildet da fast den Mittelpunkt des weiten Bogens internationaler Perspektiven, der von der französischen Region Poitou im Westen über die Evangelischen Museen in Slowenien und Ungarn bis zum Landeskirchlichen Museum im rumänischen Hermannstadt im Osten reicht. Dorthin kamen vielfach „Transmigranten“ im 18. Jahrhundert aus den österreichischen Landen – also Verschleppte – ohne dass es an die große Glocke gehängt wurde. Wirtschaftlich fassten sie dort bald Fuß – bevor sie in den letzten Jahren wieder zurückkehrten.

Bald schon aber sprachen mehr wirtschaftliche als religiöse Gründe für eine Emigration: Da schlägt das Löhe-Zeit-Museum in Neuendettelsau eine Brücke nach Übersee. Es zeigt eine nachgebaute Koje der Baumwoll-Frachter, in denen Franken ihre Reise ins Ungewisse unternahmen. „Armen Menschen war es vom König sogar verboten zu heiraten“, erklärt Museumsleiter Hermann Vorländer. Sie suchten also auch die Freiheit. Kaum waren sie vor Bremerhaven in internationalen Gewässern, läuteten auf den Schiffen die Hochzeitsglocken. Aber auch Ex-Revolutionäre und Handwerksburschen, die nach Impulsen Löhes als Seelsorger wirkten, fuhren mit.

Diakonische Einrichtungen kümmerten sich da bereits um Wanderarbeiter und Gesellen. Anhand mehrerer Beispiele macht das Diakoniemuseum in Rummelsberg greifbar, wie sie diese Herausforderungen erfüllten. Dann begannen vor hundert Jahren Vertreibungen zu nationalen Bereinigungen. Das Museumskino zeigt einen Film von 1950 über Geflüchtete aus den Ostgebieten und ihre Eingliederung. Einen Raum weiter gibt es Zeugnisse von Mitarbeitenden der Diakonie aus 20 Nationen. Auch sie fassten bald hier Fuß und bauten sich ein neues Leben auf. Was schlägt die Glocke in der Zukunft? Susanne Borée

Ausstellungen im Diakoniemuseum Rummelsberg bis 29. Juni 2025, mehr unter https://www.diakoniemuseum.de oder Tel. 0918/502274. Im Kirchenmuseum Bad Windsheim bis 2. Juni 2024, mehr unter https://mkf.freilandmuseum.de oder Tel. 09841/6690-66, auch begleitende Vorträge. Die Ausstellungen im Löhe-Museum und bei Mission EineWelt in Neuendettelsau beginnen am 21. und am 25. Mai. Mehr zu allen Museen: https://www.evangelische-migrationsgeschichten.com. 

Gleichnamiger übergreifender Ausstellungskatalog von Th. Greif & A. K. Thurnwald † (Hg.), ISBN 978-3-95976-426-1, Verlag Josef Fink 2023, 280 S., 29 Euro.