Gesangbücher prägen Glaubensformen

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Das Graduale von St. Lorenz aus dem Jahr 1421. Foto: Tonke (LAELKB)
Das Graduale von St. Lorenz aus dem Jahr 1421. Foto: Tonke (LAELKB)

Tagung zum 500. Jubiläum des Gesangbuchs im Landeskirchlichen Archiv Nürnberg

Auf zwölf Seiten erschienen acht Lieder zu fünf Melodien: So wenig spektakulär es heute erscheint, markiert es doch eine musikalische Zeitenwende: Denn vor 500 Jahren, zur Jahreswende 1523/24, erschien mit dem „Achtliederbuch“ der Vorläufer des heutigen Evangelischen Gesangbuchs. Zwar war Wittenberg als Druckort angegeben – doch hatten die Auftraggeber auf das technische Können Nürnbergs zurückgegriffen: In der Werkstatt von Jobst Gutknecht erschienen vier Luther-Lieder und Werke von Paul Speratus sowie wohl von Justus Jonas. 

Die Reichsstadt als Erscheinungsort „musste damals wohl geheim gehalten werden, denn die Nürnberger waren mit dem Protestantismus einfach noch nicht so weit“, meint Thilo Liebe. Er leitet die Bibliothek des Landeskirchlichen Archivs der Evangelisch-Lutherischen Kirche Bayerns (LAELKB). Waren zuvor die Gesänge der Messliturgie handschriftlich für die Geistlichen aufgezeichnet worden, begann mit dem reformatorischen Druck „die Tradition des Singens im Gottesdienst und der Verbreitung reformatorischen Gedankenguts und Frömmigkeit in der Bevölkerung“, erklärt Liebe. 

So hat das Landeskirchliche Archiv dieses Ereignis unter der Schirmherrschaft der Nürnberger Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyhern kürzlich zentral gewürdigt. Nun, zum Sonntag Kantate, lohnt es sich, den Wegen der Gesangbücher genauer nachzugehen. Zwar besitzt das Nürnberger Archiv kein Achtliederbuch, dafür aber ein Graduale von 1421 aus der Nürnberger St. Lorenzkirche. Geschrieben hat es unter anderem der Dominikanermönch Johannes Gredinger. Daneben war aber noch mindestens der Schreiber Georg Rayl, Vikar in St. Lorenz, beteiligt. Er hat in manchen Texten Lettern mit gekritzelten Gesichtern verziert.

Auch nach der Reformation waren Bilder im Gesangbuch keineswegs nur dekoratives Beiwerk, erklärte Esther Wipfler bei ihrem Vortrag während des Symposiums. Sie dienten oft der Einführung, Vertiefung und Erweiterung der heilsgeschichtlichen Inhalte. Oft waren sie in den Büchern auch als eigenständige Andachtsbilder gedacht. Insofern zeigen sie neue religiöse und theologische Ideen oder Frömmigkeitspraktiken. 

Einheitliche Einführung

Viele dieser Entwicklungslinien lassen sich in der Gesangbuchsammlung des Landeskirchlichen Archivs zeigen. Dort findet sich auch ein erstes Gesangbuch aus dem Kloster Sulz-Dombühl von 1576, das der dortige erste protestantische Pfarrer Caspar Vieweg schrieb. Aufklärung und Pietismus schufen sich eigene Zusammenstellungen. Später, im 19. Jahrhundert begannen staatliche Vereinheitlichungsbestrebungen. Vollständig archiviert sind in Nürnberg die Ausgaben des Bayerischen Gesangbuchs, das erstmals 1814 erschien, so Archivleiterin Alex­andra Lutz. Damals mussten die Gemeinden teils unter Waffenandrohung die Bücher austauschen.

Mit der Einführung des ersten allgemeinen „Evangelischen Kirchengesangbuchs“ (EKG) in den 1950er Jahren und dann seines Nachfolgers rund 40 Jahre später wurden zunehmend alte Gesangbücher an das Archiv abgegeben. Dies förderte den systematischen Aufbau der Sammlung des Landeskirchlichen Archivs – mit Büchern aus dem Raum der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern sowie ihrer territorialen Vorgängerinnen. Auch gut erhaltene und beispielhafte Exemplare aus anderen Gebieten gibt es dort.

„Wir machen auch Fortschritte bei der Digitalisierung unseres Bestandes“, erklärt Lutz eines ihrer Hauptanliegen. Vieles finde man bereits jetzt im „Bavarikon“, dem Internetportal des Freistaats Bayern. Sie hofft auf weitere Mittel, um dies Unterfangen voranzubringen. Doch auch die haptische Wirkung der Originale wollen die meisten Interessierten erleben. Gerade viele Teilnehmende des Gesangbuch-Symposiums waren daran interessiert. Daher organsierte das Archiv noch in den Pausen des intensiven Symposiums Führungen durch die Räume und teils durch die Magazine.

Spiegel der Frömmigkeit

Insofern bot das Archiv einen würdigen Rahmen für das Treffen. Die weite Verbreitung von Gesangbüchern gehört zur Reformation – auch wenn bald Katholiken die Wirkung des Mediums erkannten. 

Und der Reformierte Genfer Psalter war besonders weit international verbreitet, führt Henning P. Jürgens weiter aus. In Genf schufen Calvin und seine Mitstreiter ein Gesangbuch, das zur alleinigen Grundlage des reformierten Gemeindegesangs werden sollte. Als solches entwickelte es sich zu einem „Exportschlager“ und Erfolgsmodell. Für alle reformierten Gemeinden dienten die französischen gereimten Fassungen der 150 Psalmen, vor allem aber die Melodien und Sätze des Genfer Gesangbuchs zur Vorlage für eigene Psalter-Gesangbücher. 

Gerade Frauen gestalteten seit dem Beginn in evangelischen Gesangbüchern deren Theologie und Frömmigkeit mit. Andrea Hofmann, eine der Organisatorinnen der Tagung, ging diesen Entwicklungslinien nach. Die Lehrerin Magdalena Heymair (ca. 1535 – ca. 1586) etwa dichtete das Buch Jesus Sirach in Liedform um, da es viele Empfehlungen für ein gutes und gottesgefälliges Leben beinhaltet. Sie brachte auch ganz ähnlich die Geschichte beispielhafter Prophetinnen wie Mirjam und Hannah in Reimform, so dass sie sich zu bereits bekannten Melodien singen ließen. Sie lehrte zunächst in Cham in der Oberpfalz, später in Regensburg. Ihre Schülerinnen lernten die Texte wohl auswendig, so Hofmann. 

Aemilie Juliana von Schwarzburg-Rudolstadt (1637–1706) gab als Landesmutter ihres Gebietes Lieder und Gebete für Frauen heraus, die gerade Schwangerschaft und Geburt aber auch den Verlust eines Kindes thematisierten. Auch sie selbst scheint durch den Verlust eines Kindes geprägt, griff dies aber auch seelsorgerisch auf. Und Henriette Catharina von Gersdorf(f) (1648–1726), die Großmutter Zinzendorfs, war als Dichterin bekannt.

Die Tagung in Nürnberg bot so in interdisziplinärer Vernetzung den Auftakt zu einem Veranstaltungsreigen rund um das Gesangbuch-Jubiläum, das bis ins nächste Jahr geht. Derzeit arbeitet eine 80-köpfige Kommission aus den deutschen Landeskirchen an einem neuen Evangelischen Gesangbuch, das im nächsten Jahr erscheinen und 2028 auch digital veröffentlicht werden soll. 

„Damals wie heute muss der Spagat zwischen liturgischem Anspruch und einfacher Singbarkeit gelingen“, schlägt die Nürnberger Regionalbischöfin Hann von Weyhern eine Brücke über die 500 Jahre. Daher sollen auch die Vorträge des Treffens im Frühjahr 2024 als Buch erscheinen.

=> Mehr über das Landeskirchliche Archiv in Bayern unter https://www.archiv-elkb.de