Gewagter Neubau des brennenden Hauses

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Ernst Troeltsch, 1915 und Buchcover. Foto: epd/F
Ernst Troeltsch, 1915 und Buchcover. Foto: epd/F

Zum hundertjährigen Todestag des liberalen Theologen Ernst Troeltsch

„Der Zank der theologischen Parteien ist wie ein Kinderstreit inmitten eines brennenden Hauses“, so Ernst Troeltsch schon früh. Er verstarb vor genau hundert Jahren am 1. Februar 1923. Rechtzeitig zu diesem Anlass erschien eine umfangreiche Einführung in sein Leben und Werk von Friedrich Wilhelm Graf, einem der größten Kenner dieses Theologen. Anhand seines 600-Seiten-Werkes sollen nun einige Schneisen in die Liebenswelt und die Denkhorizonte Ernst Troeltschs geschlagen werden.

Dessen Vita ist schnell erzählt: Am 17. Februar 1865 erblickte er als ältester Sohn einer Arztfamilie in Haunstetten, inzwischen ein Stadtteil Augsburgs, das Licht der Welt. Er studierte Theologie an den Universitäten Augsburg, Erlangen, Berlin und Göttingen. Schon mit 27 Jahren erhielt Troeltsch 1892 seine Berufung als Professor für Systematische Theologie an die Universität Bonn. 1894 ging er nach Heidelberg. 

Erst 1900 heiratete Troeltsch. Die Ehe war wohl nicht leicht. Seine Frau Marta entstammte den ostelbischen Grundbesitzern. Wie sie sich genau kennenlernten, lässt sich auch für Graf kaum klären. Sie war viel ungebildeter und konservativer als ihr Mann, oft auch kränklich. Der Sohn Eberhard kam 1913 zur Welt. 

In Heidelberg hatte er enge Verbindungen zum fast gleichaltrigen Max Weber, der dort neben seiner Lehrtätigkeit publizierte und vor allem regelmäßig namhafte Persönlichkeiten zu seinem „Jour fixe“ versammelte. Mit seinen religionssoziologischen Gedanken prägte er auch Troeltsch, der jedoch viele Grundgedanken theologisch weiter entwickelte. 1904 war er zusammen mit Max Weber und anderen zur Welt-
ausstellung in die USA eingeladen. 

Warum noch Kirchen?

Immer wieder beschäftigte sich Ernst Troeltsch mit dem Wesen und der Geltung des Christentums in einer zunehmend säkular und naturwissenschaftlich geprägten Welt. Dabei wollte er den religiösen Kern im Abendland wahren, sie aber mit den Herausforderungen der aufgeklärten Welt in Einklang bringen. 

Bereits in seinen frühen Vorlesungen erläuterte Troeltsch, dass die Kirchen in den Anfängen notwendig gewesen sei als die großen „Organisatoren des Ideals“ des Christentums. 

Die mittelalterliche christliche Einheitskultur sei dann durch die Reformation und vor allem im Zeitalter der Aufklärung durch die säkulare Kultur und Gesellschaft aufgebrochen worden. Denn der „Altprotestantismus bewahrt mittelalterliche Vorstellungen von der christlichen Einheitskultur, geht also davon aus, dass die Kirche als eng mit der Obrigkeit verbundene Institution weiterhin ein Monopol auf die Durchdringung des Gemeinwesens“ habe. Doch sie sei überflüssig geworden, wo sie „von der profanen Kultur, Kunst und Wissenschaft überall überholt“ würden – also nach der Aufklärung. 

Die Kirchen sollten schon zu seiner Zeit „der Tatsache ins Auge sehen, daß nicht bloß die Christlichkeit des deutschen Volkes unabwendbar in viele Konfessionen, Sekten und Gruppen zerteilt ist, sondern überhaupt für einen Teil des Volkes nicht mehr vorhanden ist“.

Kern der Religion?

In seinem Aufsatz „Christentum und Religionsgeschichte“ von 1897 führte Troeltsch aus, dass der menschliche Geist eine eigenständig wirksame Kraft sei, die sich von der Natur grundsätzlich unterscheide. Somit existiere kein Widerspruch zwischen Naturwissenschaften und Religion. Durch die Gottesbeziehung entstehe sogar eine Distanz zur Realität, also Transzendenz. 

Gleichzeitig dachte der Theologe darüber nach, welche Sonderstellung das Christentum gegenüber anderen Religionen haben könne. Die Welt war zu seiner Zeit auch durch die Folgen des Kolonialismus, durch Entdecker und Missionare, zusammengerückt. 

„Als absolute Wahrheit ist keine einzige Religion wissenschaftlich zu erweisen“, erklärte Troeltsch 1896. Diese „könne nur in der Freiheit gedeihen“, etwa durch unabhängige theologische Fakultäten. 

Allerdings, so erklärte Troeltsch, gebe es in allen Religionen einen „Kern“ , den er als „eine innere Berührung mit der Gottheit“ beschrieb. Überall lasse sich eine „Vergeistigung, Verinnerlichung, Versittlichung und Individualisierung und Herausbildung eines immer tieferen Erlösungsglaubens“ be-
obachten. 

Dies geschehe jedoch in den verschiedenen Religionen durch die jeweiligen historischen und kulturellen Anregungen, aber auch durch innere Reize im Gewissen und Herzen auf unterschiedlichen Stufen. Nur im Christentum sei die Vergeistigung und Erlösung völlig verwirklicht. Eine einseitige Offenbarung Gottes hat bei ihm wenig Raum.

Das „verabscheute“ schon der junge Karl Barth, der Ernst Troeltsch bereits 1911 bei einer Tagung erlebte: „Er sieht aus wie ein Bierbrauer. Wenn er nur nicht so gescheit wäre. Er wälzte sich dort mit wunderbarer Intelligenz in wunderbar plumben Konsequenzmachereien einher“, so Barth bei Graf.

Immer wieder überarbeitete Troeltsch seine Gedanken. In seine Belegexemplare bei Veröffentlichungen ließ er sich schon eigens weiße Seiten mit einbinden, um Raum für Ergänzungen zu haben, wie Graf darlegt. Immer wieder rang Troeltsch wie Adolf Harnack mit der Frage, wie es vom Wanderprediger Jesus zum Christuskult der Gemeinde gekommen sei. Hatte Jesus ein messianisches Selbstbewusstsein? 

Zunächst habe sich die rein religiöse Erlösungsbotschaft Jesu als „Gottesherrschaft in der Liebe“ auf Erden als Heilsereignis gezeigt. Dabei breche das „Jenseits als Kraft des Diesseits“ in die Welt herein. 

Troeltsch fragte sich da, „inwieweit der christliche Glauben umgeformt und reformuliert, auch in der modernen Welt noch Bestand haben und kulturell produktiv wirken könne“? Für ihn ist die Entwicklung des Christentums nicht nur als Kirchengeschichte zu verstehen, sondern auch in den Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit und Ethik. Gerade Aufklärung und Pietismus hätten eine selbstverantwortete Glaubensweise gefördert. 

Praktische Bedeutung haben nach Troeltsch die Glaubensideen für die Lebensführung des Einzelnen, für den Umgang der Christen mit den karikativen Aufgaben und sozialen Herausforderungen ihrer Zeit. Doch sei gerade die traditionelle lutherische Konfession immer eng mit der Obrigkeit verwoben gewesen sei. Der Calvinismus habe es einfacher gehabt. 

Wurde Troeltsch selbst diesem Anspruch gerecht, als dann die Welt um ihn herum licherloh brannte – im Ersten Weltkrieg? Dieses Ereignis stellte für ihn selbst viel in Frage. Seit 1915 hatte Troeltsch eine Professur für Religions-‚ Sozial- und Geschichts-Philosophie und christliche Religionsgeschichte an der Universität Berlin inne. Hier war er näher an den aktuellen Herausforderungen seiner Zeit: Wie ging er damit um?

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