„Schulbildung ist nicht verhandelbar“

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Jacques Nshimirimana.Foto: ora Kinderhilfe
Jacques Nshimirimana.Foto: ora Kinderhilfe

Lebenslinien: Anwalt setzt sich aus christlichem Glauben für Kinderrechte in Burundi ein

Der Schulbesuch für alle Heranwachsenden: Das ist in Burundi keine Selbstverständlichkeit. 40 Prozent der Erwachsenen können in dem zentralafrikanischen Land weder lesen noch schreiben, sagt Jacques Nshimirimana. In seiner Heimat ist er Kinder- und Menschenrechtsanwalt. Nun war er zu Gast bei dem Hilfswerk ora Kinderhilfe international e. V. Durch die engen Verbindungen zwischen der Hilfsorganisation und dem Sonntagsblatt war ein Videogespräch mit ihm möglich, als er in Berlin war. 

Auch die ora Kinderhilfe engagiert sich seit sieben Jahren in Burundi. Sie vermittelt Patenschaften, doch unterstützt die Kinder und ihre Familien nur dann, wenn sie und alle ihre Geschwister zur Schule gehen. Daher sei es noch nie dazu gekommen, dass die Patenkinder ihre Schule vernachlässigt hätten.

Gerade für Mädchen ist der Schulbesuch aber keineswegs ungefährlich: Nicht selten würden sie von ihren Lehrern missbraucht, muss Jacques Nshimirimana berichten. Oder sie verkaufen sich für bessere Noten. Oder gar für Hygieneartikel: Binden seien ein großer Luxus. Junge Mädchen würden oft als Babysitter bei reichen Familien arbeiten und ebenfalls schnell missbraucht. Bei einer Schwangerschaft dann von den Arbeitgebern sowie von ihren Familien verstoßen. Etwa 4.000 Babys von Schülerinnen erblickten so unverhofft das Licht der Welt. Hilfszentren versuchen sie aufzufangen. 

Andere Mädchen behelfen sich bei ihrer Periode mit oft stark verschmutzten Stoffen oder Teilen von alten Matratzen – Entzündungen und Krankheiten, die sie oft aus Scham verschleppen, sind oft die Folge. Auch das Projekt will die ora Kinderhilfe angehen, erklärt ihre Geschäftsführerin Carmen Schöngraf. 

Legal dürften Jugendliche erst ab 16 Jahren arbeiten, aber viele würden von ihren Eltern schon mit zehn oder zwölf Jahren zum Arbeiten ohne Rechte und ohne angemessene Bezahlung gezwungen. Schließlich ist Burundi das ärmste Land der Welt. Jeder zweite Einwohner hungert. Der Bürgerkrieg in den zwölf Jahren nach 1993, Burundis Verwicklung in die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Hutu und Tutsi, die aus dem Nachbarland Ruanda ihre Wellen zog, und die Krise nach 2015 trugen zur elenden Situation im Land bei.

Mit seinem lange geplanten Besuch in Deutschland lenkt Jacques Nshimirimana die Aufmerksamkeit auf das kleine Land im Nordwesten Tansanias, das trotz allen Elends nur selten aus dem Windschatten der Aufmerksamkeit auftaucht – zumal in diesen Zeiten. Dabei ist das Land kleiner als Brandenburg, aber mit zwölf MillionenEinwohnern fast fünfmal so dicht besiedelt. 

Gewalt überwinden

Nshimirimana war mit zwölf Jahren Waise, sein Vater ein Opfer des Bürgerkriegs. Dennoch schaffte er mit Hilfe christlicher Organisationen eine höhere Schulbildung – und das Jura-Studium. Nun ist er Anwalt. 

Nach dem Bürgerkrieg gründete er 2005 die Organisation „SOJPAE-Burundi“ zur „Solidarität der christlichen Jugend für Frieden und Kindheit“. Die Bildung ist ihr besonders wichtig. Dazu übernimmt sie Schulgebühren und Kosten für Schuluniformen. Die Familien werden mit Nahrung, Medizin und Kleidung versorgt. Mit seinem Team konnte Jacques Nshimirimana 18.000 Kindern helfen. 

Besonders bedroht im Land sind Albinos: Einem Pulver, aus ihren zerstückelten Leichen hergestellt, wird Wunderwirkung zugeschrieben. Es hilft angeblich den Fischern, einen überreichlichen Fang zu machen – dass die Fische ihnen quasi von selbst ins Netze gehen. Der Tanganjikasee als zweitgrößter See Afrikas grenzt an Burundi. Dieses Pulver sei bis zu 30.000 Euro pro Kilo wert.

Erst kürzlich wurde wieder ein kleiner burundischer Albino-Junge entführt und getötet. Jacques Nshimirimana konnte mit seinen Mitstreitern die Täter festnehmen und das Kind bestatten. Dabei schien das Land diesen schrecklichen Aberglauben im Griff zu haben: Bis 2014 konnten Albino-Kinder nur selten bei ihren Familien leben. Sie kamen in Schutzheimen unter. Inzwischen ermutigte die Regierung sie, wieder zu ihren Familien zurückzukehren.

Burundi selbst ist ausgeblutet. Nach dem Bürgerkrieg bis 2005 gab es ab 2015 eine neue politische Krise, als der Präsident Pierre Nkurunziza sich das dritte Mal wählen ließ, obwohl nur zwei Perioden erlaubt sind. Daher verhängten die Europäische Union und die USA harte Sanktionen gegen Burundi. Mangel, Inflation und Unterernährung prägten die Gesellschaft, so Nshimirimana. Auch die Folgen des Klimawandels zeigen sich zunehmend.

Hoffnung auf Wandel

Im Juni 2020 starb der Präsident überraschend angeblich an Herzversagen. Die Spekulationen reichen bis zu Mord – oder einer Covid-19-Erkrankung des 55-Jährigen. Ansonsten hätte Corona aber nicht so eine Rolle vor Ort gespielt. Auch die Schulen seien geöffnet geblieben, so Jacques Nshimirimana

Präsidenten-Nachfolger Évariste Ndayishimiye sei menschenrechtsbewusst und würde dies nicht nur als ein „westliches Konzept“ sehen, erklärt Nshimirimana weiter. Der Westen hob die Sanktionen auf. Gesetze gegen die Gewalt an Frauen und die Vernachlässigung von Kindern seien auf dem Weg. Kein Mann darf mehr zwei Frauen haben – was offenbar vorkam, obwohl Burundi zu 94 Prozent christlich sei. 

Als einer von sieben Kommissaren der Unabhängigen Nationalen Menschenrechtskommission von Burundi kümmert er sich neben seinem sonstigen Engagement um die Kinder. „Viele kennen mich. Sie haben meine Telefonnummer“, um direkt Menschen und Kinderrechtsverletzungen zu melden. Landesweit gibt es zudem gut 200 Beauftragte, die sich um Kinder- und Menschenrechte kümmern – meist zwei in den 118 Provinzen. Auch seine Frau verlor ihren Vater bei den Unruhen 1993. „Sie versteht mein Engagement.“ Sie haben vier Kinder zwischen 15 und sechs Jahren.

Eine allgemeine Schulpflicht sei in Burundi im Gespräch. Die Grundschule bis zur sechsten Klasse ist von Schulgebühren befreit. Die Regierung prüfe, die armen Familien zu unterstützen, damit die Kinder zur Schule gehen können. „Manche Familien versuchen zu verhandeln: Reicht es nicht aus, die Hälfte der Kinder zur Schule zu schicken?“, so Jacques Nshimirimana. Doch das ist für ihn gar „nicht verhandelbar“.  

Damit würden Ideen der ora Kinderhilfe weitergeführt. Inzwischen kehren Männer, die in Notzeiten ihre Familien verlassen haben, zu ihnen zurück. Viele Frauen verzeihen ihnen, es werde eine große Feier wie eine zweite Hochzeit abgehalten. 

Auch für Erwachsene bieten örtliche Gemeinden Bildungskurse an. Die meisten Kurse, so Jacques Nshimirimana, bis auf zwei würden inzwischen von Frauen geleitet. Sie werden so zu Vorbildern für ihre Gemeinschaft.