Glaube in verletzlicher Zeit

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Traumapädagogin Martina Bock, Palliativmediziner Marcus Schlemmer, Regionalbischöfin Petra Bahr und Theologieprofessor Günter Thomas (von links) gaben auf der digitalen Frühjahrssynode Impulse zum Thementag „Glaube in verletzlicher Zeit“.Foto: PR, epd/F (1)
Traumapädagogin Martina Bock, Palliativmediziner Marcus Schlemmer, Regionalbischöfin Petra Bahr und Theologieprofessor Günter Thomas (von links) gaben auf der digitalen Frühjahrssynode Impulse zum Thementag „Glaube in verletzlicher Zeit“.Foto: PR, epd/F (1)

Thementag zu Glaube, Theologie und Seelsorge in der Pandemie auf der digitalen Synode

or dem Hintergrund der Erfahrungen aus Pandemie und Lockdowns dachten die Synodalen auf der digitalen Frühjahrssynode über „Glaube in verletzlicher Zeit“ nach.  Die Synodalen stellten sich der Frage, wie soll sich der Gläubige, aber auch die Kirche geistig und geistlich auf so eine Situa-tion vorbereiten, wie sie zurzeit herrscht? Konkret wird gefragt, was hat die Corona-Pandemie theologisch ausgelöst und welche Konsequenzen können die Erfahrungen für den christlichen Glauben und auch für die Kirchenleitung haben?

Thematische Impulse erhielten die Synodalen  von der Traumapädagogin Martina Bock und von Professor Marcus Schlemmer, dem Chefarzt der Klinik für Palliativmedizin im Münchner Krankenhaus der Barmherzigen Brüder. Traumapädagogin Bock arbeitet bei der Stiftung Wings of Hope (Nürnberg, München und Ruhpolding), die nach dem Krieg in Bosnien-Herzogowina 2003 gegründet wurde und sich traumatisierten Kindern aus Krisengebieten annimmt.

Wunden wahrnehmen

Martina Bock führte die Synodalen zunächst in die Thematik „Trauma“ ein. „Trauma ist eine Wunde – eine seelische Verletzung, die durch existentiellen Stress verursacht wird“, erläuterte sie zu Beginn. Auslöser seien Situationen von Bedrohung und Gewalt, das Erleben von Ohnmacht, Einsamkeit und Ausgeliefert sein. „In traumatischen Situationen sind wir so überwältigt von Stress, dass wir nicht ganze Erlebnisse zusammenhängend abspeichern, sondern in Fragmenten.“ Daher könnten einzelne Bilder, Worte, Gedanken, die den Betroffenen irgendwann einmal später begegnen und sie an die Situation erinnern, zurück in die bedrohte Vergangenheit versetzen. Traumata beeinflussen das Verhalten, das Denken, die Gefühle und die Beziehungen zu anderen. Menschen würden mit Panik, Fluchtimpulsen, mit Verzweiflung, Wut, Unterwerfung und Depression reagieren – all das, was man auch jetzt in Corona-Zeiten bei vielen Menschen beobachten könne. 

„Menschen brauchen Erfahrungen von Sicherheit, Beziehung und Bindung, Selbstwirksamkeit und die Hoffnung, dass es irgendwann wieder besser wird“, erläuterte Bock. Wer diese Dinge in seinem Leben vermisse, wäre gerade während der Corona-Krise besonders gefährdet. „Die Frage, die wir uns als Einzelne, als Gesellschaft und als Kirche stellen müssen ist: wie können wir Erfahrungen von Sicherheit, Bindung und Beziehung, Selbstwirksamkeit ermöglichen und wie können wir Hoffnung und Perspektive vermitteln?“ Bock forderte daher in der Gesellschaft und auch – als Impuls für die Synode – in der Kirche Dia-logräume, in denen unterschiedliche Perspektiven vorkommen, Menschen ihre Erfahrungen, ihre Geschichten erzählen, ohne die Angst etwas Falsches zu sagen oder abgestempelt zu werden.

Einen Bibeltext zu ihren persönlichen Schlüssel für den Umgang mit der Pandemie sieht die Traumapädagogin in der biblischen Geschichte, als Jesus als Auferstandener zu den Jüngern kommt (Joh. 20,19–31): „Sie hatten die Türen verschlossen vor Furcht. Und Jesus tritt ein und sagt: Friede sei mit Euch und sie sehen seine Wundmale“, beschrieb Boch die Erzählung der Bibel. „Glaube in verletzlichen Zeiten heißt auch hinschauen, die Wunden wahrnehmen und handeln mit dem Satz im Rücken: Fürchtet Euch nicht!“, gab sie den Synodalen mit auf den Weg.

Unterschiedlicher Schmerz

Palliativmedizin wendet sich den Verletzlichen zu, besonders den Schwerkranken und den Sterbenden, sagte Chefarzt Marcus Schlemmer zu Beginn des zweiten Tagesvortrages. „Wir Palliativmediziner glauben, wir können ihnen helfen.“ Er mutmaßte, warum er eingeladen worden sei:  „Ich bin möglicherweise ein Spezialist für das Ende des Lebens, aber ich habe die Überzeugung, dass dieses nicht das Ende des Lebens ist! Ich habe die Überzeugung, dass das Leben weitergeht auch wenn wir gestorben sind, wegen Ostersonntag“.

Der Mediziner klärte die Synodalen darüber auf, dass es am Ende des Lebens einen sogenannten „totalen Schmerz“ gibt, der vier Facetten habe: Einen körperlichen Schmerz, einen sozialen Schmerz („Ich kann nichts mehr zur Gemeinschaft
beitragen!“), einen emotionalen Schmerz („Ich muss mich von denen verabschieden, die ich liebe!“, nach Schlemmer der schlimmste Schmerz) und einen spirituellen Schmerz.  Palliativ-Mediziner erleben, dass dieser spirituelle Schmerz am Ende des Lebens größer wird. „Wir müssen uns daher trauen, sterbende Menschen zu fragen, ob sie sich fürchten, was aus ihnen nach dem Tod wird, wo sie hingehen, ob sie den Glauben haben, weiterzuleben!“ „Jesus hatte genau diese Not am Kreuz, so der überzeugte Christ, was man am Ausruf „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46) sehen könne.  „Wenn wir uns um Menschen kümmern, die möglicherweise sterben, dann müssen wir auch ihren totalen Schmerz anschauen.“ Wichtig sei zudem zu wissen, dass sich Menschen am Ende des Lebens oft selbst nicht so wichtig finden. „Sie denken darüber nach: Was wird aus meinen Angehörigen?“ Für die Gesellschaft und die Kirche folgert sich daraus: „Wir müssen uns auch um die Angehörigen kümmern.“

Kultur der Begegnung

 „Wenn wir heute über verletzliche Zeiten nachdenken, ist es wichtig, dass wir über Beziehungen nachdenken“, so der Arzt. „Der Mensch ist ein Beziehungswesen und braucht eine Kultur von Begegnung, das ist auch besonders eine Kultur der Begegnung von Liebenden.“ 

Palliativmedizin habe auch etwas mit Gründonnerstag zu tun. „Ich bin ein Gründonnerstagsfan“, sagte Schlemmer. Sein liebster Bibeltext seien die Abschiedsreden Jesu, Johannes 13–17. „Da ist ein Mensch der weiß, er muss leiden und sterben und er leidet darunter, dass er die, die er liebt verlassen muss. Und er spricht zu ihnen über Dinge die ihm wichtig sind. Das größte Gebot, das dort steht, ist Johannes 13,34, das Liebesgebot, ohne dies ist das Zusammenleben von Menschen nicht möglich.“

Ein großes Problem in der Pandemie seien die von der Politik angeordneten Besuchsverbote. „Palliativmedizin bedeutet aber: Ihr dürft kommen, ihr dürft miteinander traurig sein.“ Schlemmer nannte die Besuchsverbote, die größten Einschnitte des letzten Jahres. „Das war ein Kulturschock für uns, dass wir Angehörigen sagen mussten, du darfst nicht kommen.“

In diesem Zusammenhang könnten wir etwas Positives aus der Pandemie ziehen: „Dass wir uns mehr mit unserer Endlichkeit befassen, dass die Dramen nicht fern von hier, sondern in unserem Leben vor unserer Tür stattfinden. Wir können zur Verantwortung zu einer sozialen Kultur finden und sie pflegen!“ 

In der Pandemie müssen wir lernen zu unterscheiden und uns zu beschränken, was am Ende für uns wirklich wichtig ist. „Das wichtigste in unserem Leben sind“, so Schlemmer, „die Menschen, die Begegnung, die Begegnung mit den Menschen die wir lieben“! Christ sein heißt nach seiner Überzeugung begegnen: Gott und dem Nächsten.

Vom Leben reden

Am Nachmittag gaben Petra Bahr, Regionalbischöfin in Hannover und Günter Thomas, Professor für Systematische Theologie in Bochum theologische Impulse vor der Synode zur Thematik. 

Regionalbischöfin Bahr stellte die Darstellung des Gekreuzigten auf dem Isenheimer Altar von Matthias Grünewald (1515) in den Mittelpunkt ihres Impulses. „Wir sehen einen durch Infektionskrankheiten gezeichneten, konkreten Menschen.“  Die Haut des dargestellten Christus ist geschrundet, hat Pocken und Narben und ist blau und gelb verfärbt. „Grünewald hat Kranke und Sterbende im Spital zur Vorlage genommen. Der Künstler drücke damit aus, „der leidende Christus ist der Kranke zu meiner Zeit.“ 

Bahr sieht Parallelen zur Corona-Pandemie. In dieser schweren Zeit würde ihr am meisten die Dünnhäutigkeit von Menschen – gerade auch der der Kirche – begegnen. Dünnhäutig zu sein bedeute,  kränkungsbereiter zu sein, leichter verletzbar, schwerer vergebungsbereit. Der Frust, der sich in der Corona-Zeit aufbaue, würde so manches Mal Dünnhäutige in Gewaltbereitschaft und Radikalität treiben. „Was ist mit der Dünnhäutigkeit unserer Seelen und Herzen?“, fragte die Theologin weiter. Im Isenheimer Altar zeige sich eine Passion, die genau in unsere schwere Zeit passt.

Wie sollen Christen und Kirchen nun handeln? „Wir müssten zwar vom Sterben reden“, so Bahrs Antwort. Aber: „Ich möchte vielmehr einladen vom Leben zu reden und im Horizont von Ostern auch vom ewigen Leben“, sagte Bahr. „Wir müssen uns fragen, was gibt dem Leben Fülle in Zeiten von Beziehungsabbrüchen?“ Der öffentliche Auftrag von allen Christen und nicht nur von Pfarrern und Seelsorgern sei es,  von einer Hoffnung zu sprechen, die das Leben anders versteht. Die Aufgabe der Kirche sei es, Anwältin zu sein für die, die andere nicht sehen, besonders auch für Kinder und Jugendliche. 

Wir brauchen Klagemauern

Professor Günter Thomas, dem vierten Referenten des Thementages,  ist in dieser Corona-Krise dagegen das Reden der Kirche vom liebenden barmherzigen Gott zu wenig. Von Kirchenvertretern sei zu hören, dass Corona keine Strafe Gottes sei. „Aber je länger die Pandemie anhält, umso bedrängender werden die Fragen: Ist das alles, was zu sagen ist?“, fragte Thomas die Synodalen. „Ich kenne niemanden, der jetzt den sonst so gerne aufgerufenen Propheten Amos zitiert: ,Ist etwa ein Unglück in der Stadt, das der Herr nicht tut?“ (Amos 3,6). Die
Kirchen erscheinen ihm theologisch zu wenig beunruhigt. Dabei wäre die Bibel doch voll von Beispielen von Klage und Bitte zu und an Gott.

„Die Klage aber, ist die Glaubensgestalt spirituell Verwundeter. Daran erinnert der Psalter. Und: Corona hat uns spirituell verwundet“, so der Professor für Systematik. Ungefähr ein Drittel der Psalmen – dem Gebetbuch der Bibel – beklagt, dass die Dinge nicht so sind, wie sie sein sollten. „Die Worte, die sie verwenden, sind Worte der Beschwerde: der Frage, des Kummers, des Zorns und der Frustration und oft genug der Bitterkeit.“

„In Corona-Zeiten und danach brauchen wir Klagemauern. Wir brauchen tausend Ritzen, in die Menschen heimlich wie öffentlich ihren Verzweiflungsglauben stecken können“, rief der Theologe den Synodalen zu. „Wir brauchen den spirituellen Mut zur Wut – zu einer Klage, die Gott als Adresse hat.“, so
die theologische Schlussfolgerung. „Wenn aber die Kirche im Licht des Ostermorgens in dieser Weltkrise zur Gottesklage findet, dann lebt sie Jesuanisch. Dann gewinnt sie.“

Wir sind verletzliche Wesen

Dann widmete er sich der Verletzlichkeit des Menschen und dem Verhältnis zur Schöpfung. „Corona kam brutal, variantenreich und rücksichtslos“, diagnostizierte Thomas.  Viren suchten sich weltweit, frei jeder Barmherzigkeit die Schwächsten als Opfer aus – Alte und Behinderte.  „Mit einem frostigen Lächeln blickt die Mutter Erde auf die Sterbenden. Wir sind Staub der atmet, so der Befund der zweiten Schöpfungserzählung im ersten Buch der Bibel. Wir sind leibliche Wesen.“

Das Nachdenken in der Kirche über Schöpfung, habe in den letzten Jahrzehnten ausschließlich der Bedrohung der Schöpfung durch den Menschen gegolten. Wir, so schien es, sind die Gefährder, nicht die Gefährdeten. Es sei übersehen worden, dass nicht nur wir Menschen die Schöpfung bedrohen. Der Mensch sei der Schöpfung und ihren Widernissen ausgeliefert. „Wir sind eben nicht nur Macher, sondern wir sind durch das Virus mit der Einsicht konfrontiert: Wir sind nicht Herr oder Frau im biologischen Haus, weder als Macher, noch als Retter – und schon gar nicht als Heiler. Wir sind verletzlich!“, so der Professor. Wenn die Theologie die Verletzlichkeit verleugne, sei das ein Ausdruck von Hochmut und Stolz!

Rettung durch Ostern

Aber gerade Ostern würde dem Rechnung tragen: „Weil die Christen nicht das Leben vergöttern, feiern sie an Ostern nicht die Regenerationskräfte der Natur. Nein, wir feiern die ‚unglaubliche‘ Auferstehung Jesu Christi von den Toten in der Macht des Geistes Gottes. Wir feiern den Anbruch der neuen Welt Gottes – einer Welt ohne Intensivstationen und ohne Impfzentren.

Bis dahin bleibt die Erkenntnis Die südafrikanische Variante des Covid-Virus will weder bebaut noch bewahrt werden, sie will bekämpft und beherrscht werden. Christsein sei auch der Versuch von Chaosbewältigung. Daher bauten Christen von Anfang an Kirchen und Hospitäler – als Orte der Barmherzigkeit und des Protests gegen biologisch- naturales Elend. 

Den Kampf der Chaosbegrenzung kämpften jeden Tag Millionen Menschen in Bayern. „Die gilt es wahrzunehmen, zu würdigen, theologisch und spirituell wertzuschätzen.“ Er schlug vor, deswegen  Sondergottesdienste für Steuerfachgehilfen, pharmazeutische Assistenten, Maschinenbauer oder gar Lastkraftwagenfahrer zu halten.

Die Synodalen besprachen anschließend unter Ausschluss der Öffentlichkeit diese Impulse und berieten über eventuelle Konsequenzen für die Kirche.