Zwischen Corona und Krieg im Kaukasus

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Gotthard Lemke und Markus Schoch.Fotos: Privat + ELKG/Archiv Sobla
Gotthard Lemke und Markus Schoch.Fotos: Privat + ELKG/Archiv Sobla

Evangelische in Georgien, Armenien und Aserbaidschan eng verbunden trotz Krisen

Ob er die Familien der Gefallenen besuchen könnte? Mit dieser Bitte wandte sich die aserbaidschanische Religionsbehörde an Gotthard Lemke. Der Ruhestandspfarrer aus Thüringen ist von der Evangelischen Kirche in Deutschland in die Aserbaidschanische Gemeinde in der Hauptstadt Baku entsandt. Das Land ist zu 96 Prozent muslimisch. Der Liste mit den Angehörigen war es egal. So ging der Seelsorger mit Päckchen einer Art „Weihnachten im Schuhkarton“ aus Amerika zu den Familien der Gefallenen. Sie waren gern genommen. Lemke hörte oft den Tenor: „Der Tod muss einen Sinn gehabt haben.“

Am 5. November 2020 kehrte Gotthard Lemke nach einem mehrmonatigen Heimaturlaub seit dem Sommer nach Baku zurück. Das war wenige Tage vor dem Waffenstillstand mit Armenien. Beim Telefonat mit dem Sonntagsblatt zeigen sich spannende Einblicke über das Leben dort. Die Siegesfeiern waren schon „schwerer Tobak“, so Lemke. Aber der Alltag zeigt sich facettenreicher – auch manchmal „schräg“ wie die dargestellte Besuchsszene – als von ferne erwartet.

Das Leben war viel teurer geworden, sah Lemke nach seiner Rückkehr. Oder lag es an den Folgen der Corona-Zeit? Selbst Masken oder Hygieneartikel waren für manche  fast unerschwinglich, Corona-Tests „nicht ausgeprägt“. Zumindest ein Arzt gehört zur Gemeinde. 

Dafür war die Ausgangssperre umso strenger. Sie wurde erst Anfang Februar wieder aufgehoben, erinnert sich Lemke. Die Menschen durften ihre Wohnung nur bei dringenden Anliegen für zwei Stunden mit vorheriger Genehmigung verlassen. Bei einer Erlaubnis bekamen sie einen entsprechenden Code auf ihr Handy. Gerade jüngere Menschen seien streng kontrolliert worden. Wer eine Arbeit hatte, konnte sie durchaus erreichen. Doch viele „machen Geschäfte“ eher inoffiziell. Das war dann nicht mehr möglich. 

Lemkes Gemeinde in Baku zählt rund 80 Mitglieder. „Viele Babuschkas“, nur mit einer kleinen Rente.  Vor 1939 waren es rund 9.000 Köpfe. Eine 91-jährige Dame hätte noch als Kind die Deportationen erlebt, doch die deutsche Sprache dabei fast vergessen. Gemeindesprache ist neben Deutsch vor allem Russisch. Präsenz-Gottesdienste in der Erlöserkirche waren ebenso wie in den Moscheen nicht mehr möglich. 

Nur noch online, ebenso wie in Georgien. Nachdem das Sonntagsblatt bereits zu Pfingsten 2019 das evangelische Gemeindeleben dort darstellte, war nun erneut ein Telefonat mit Bischof Markus Schoch über das aktuelle Leben im Kaukasus zwischen Corona und Krieg möglich. Er betreut von der georgischen Hauptstadt Tiflis aus die Evangelisch-Lutherische Kirche in Georgien (ELKG). Die Online-Gottesdienste ließen sich ohne geografische Barrieren abrufen: Nicht nur in Georgien, sondern auch in den untereinander verfeindeten Nachbarländern Aserbaidschan oder Armenien. 

„Sowjetische Familiengeschichte“

Denn mehr als die jeweiligen Landessprachen zählt in den Gemeinden immer noch Russisch. Die Gläubigen haben übergreifend eine „sowjetische Familiengeschichte“, erklärt Schoch. Anfang des 19. Jahrhunderts erfolgte die Einwanderung aus Süddeutschland. In der Stalin-Zeit waren sie faktisch ausgelöscht. Erst nach 1991 konnte sie sich neu finden – von Georgien aus. 

Auch zu den Nachbarländern Georgiens hat Markus Schoch enge Verbindungen. Drei oder vier Mal im Jahr sei er etwa vor der Corona-Krise in der armenischen Hauptstadt Jerewan gewesen. Dort habe er Gottesdienste im Rahmen des deutschen Kulturvereins gehalten. Er schätzt, dass in Armenien die erste Pandemie-Welle in der Region am heftigsten ausgefallen sei. Im Herbst war die Inzidenz in Georgien exponentiell gestiegen und lag bei bis zu 900 – trotz aller Beschränkungen. 

Lebensmittel vor dem Lockdown an Bedürftige

Als der Bischof im vergangenen März vom bevorstehenden Lockdown in Georgien erfuhr, packte er sein Auto voller Lebensmittel. Diakonie wird groß geschrieben am Kaukasus. Dazu gehört erst einmal die Versorgung mit Nahrungsmitteln. Bischof Schoch verteilte selbst von Tiflis aus Lebensmittel an mehreren Orten im ganzen Land. So erreichte er auch noch Orte, kurz bevor sie ganz in Quarantäne gingen. Auch in Georgien begann zwei Tage später der Lockdown. „Erstaunt hat man festgestellt, dass die Regierung in großen Teilen umsichtig gehandelt hat und dass Georgien gar kein so schlechter Ort war, um die weltweite Bedrohung zu überstehen.“ 

Die Auswirkungen der Krise zeigten sich aber gerade in der diakonischen Arbeit, erklärt Schoch. „Vor allem das Verbot jeden öffentlichen Verkehrs und die Einschränkung, dass in jedem Fahrzeug außer dem Fahrer lediglich noch zwei weitere Personen sitzen dürfen stellt uns vor große Herausforderungen.“ So konnten die Mitarbeitenden der Diakonie nicht mehr in öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit kommen. Und auch die Schwestern des Häuslichen Pflegedienstes für rund 80 Patienten konnten kaum zu ihnen gelangen. Zumindest die bettlägrigen Alleinstehenden besuchten sie teils in weiten Fußmärschen. 

Besonders schwierig war es für sie, Masken oder Schutzkleidung zu erhalten. Ein Marathon mit entsprechenden Bitten war lange ohne Ergebnis. Ähnlich war es mit Testmöglichkeiten: „Erst durch die Vermittlung der Deutschen Botschaft ist es uns gelungen, dass seit Ende Dezember in unserem Altenheim regelmäßig alle 14 Tage ein Test durchgeführt wird“, erklärt Schoch. Auch für kirchliche Mitarbeiter war das erst seit Januar möglich. Nun erklärte die Gemeinde kurzerhand die Schwestern des Häuslichen Pflegedienstes ebenfalls zu „am Gottesdienst mitwirkenden Personen“, damit sie die Tests erhalten konnten.

Auch die Suppenküchen, auf die viele Menschen angewiesen sind, konnten lange nur eingeschränkt arbeiten. Einkommen brachen weg, während auch in Georgien die Preise – nicht nur für Strom, Gas oder Wasser – deutlich stiegen. Seit Mitte Februar fahre der öffentliche Nahverkehr wieder werktags. Es sind wieder Gottesdienste in der Versöhnungskirche möglich. So finden sie jetzt in der Woche statt. Bis zu 50 Menschen nehmen daran teil.

Spenden und übergreifende Kulturarbeit

Auch in Baku sind Spenden des Auswärtigen Amtes oder der Diakonischen Partner aus Mitteldeutschland oder Berlin hoch willkommen. Welche ein Unterschied zum Herbst 2019! Da kamen deutsche Organisten zu einem Konzert in die Erlöserkirche, die auch seit sowjetischer Zeit als Konservatorium dient. Dort lässt sich ein Orgelstudiengang belegen – wohl auch etwas Besonderes in der muslimischen Welt, so Lemke. Kann da die Musik Gräben überwinden und „die Tränen abwischet, wenn nichts anderes mehr hilfreich will sein“?

Dt. Spendenkonto für die Ev. Kirche und Diakonie in Georgien: IBAN DE91 5206 0410 0000 4186 68, Ev. Bank Stuttgart, BIC: GENODEF1EK1

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