Wie war das noch mit „meiner“ Deutschen Einheit? Teil 1

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Zehntausende Menschen feiern am Brandenburger Tor 30 Jahre Mauerfall
Hoehepunkt der Festivalwoche zum 30. Jahrestag des Mauerfalls und der friedlichen Revolution in Ostdeutschland war am Samstagabend (09.11.2019) eine grosse Buehnenschau vor dem Brandenburger Tor in Berlin. Foto: Eid/F

Wie war das noch mit der Deutschen Einheit und mir? Sonntagsblatt-Redakteure schildern ihre Erinnerungen.

Vor vielen Jahren war ich mit einer Freundin in Berlin. An einem später so bedeutenden Tag machten wir uns auf, ihren Onkel in Ost-Berlin zu besuchen. Wir tauschten Geld und tauchten aus den Tiefen der U-Bahn  in einer anderen Welt auf, als die, die wir wenige Meter zuvor verlassen hatten. Der Rauch der Kohleöfen, mit denen in Ost-Berlin scheinbar ausschließlich geheizt wurde, steigt uns in die Nase. Der Osten erschien uns grau. Sehr grau und abgewetzt.

„Was wa nich ham, brauchense nich!“ Es schien der Wahlspruch hier in Ost-Berlin zu sein. Nirgends sahen wir blinkende Reklame. Es gab keine bunt gestrichenen Häuserfassaden. Es hatte den Charme des Verfalls mit Außenklo, der uns unbekannt war. Bei Kaffee und Kuchen erzählte der Onkel Geschichten aus dem Osten. Was wussten wir denn schon groß vom Osten? Mangel sollt herrschen – überall und allenthalben. Gefährlich wäre es. Ein Wort zu viel und schon würde man im Knast sitzen. Jeans waren angeblich nicht zu finden – wir sahen sie aber dennoch. Kaffee gab es nur als Paket aus dem Westen.

Sie war sehr fremd, diese Welt, die wir betraten. Am Kaffeetisch jedoch war sie nicht mehr fremd. Besuche bei Verwandten sind stets staatenlos. Wir hörten von Menschen, die andere ausspionierten. Ja  – selbst Freunde schienen sich gegenseitig anzuschwärzen. Davon hörte man in den Nachrichten. Ein Tatsachenbericht am gedeckten Tisch mit gutem Porzellan ist allerdings etwas anderes. Beklemmend. 

Aber machten wir uns darüber hinaus Gedanken über das Leben in der ehemaligen DDR? Dass die Cousine meiner Freundin ihr Kind eben schnell noch aus der Krippe nach der Arbeit abholen würde? Von Kinderbetreuung und gleichzeitiger Vollzeitstelle waren wir emotional weit entfernt. Dieses ganze erwachsene Leben und das Leben im Osten war so anders als unsere Realität in einer Kleinstadt in Mittelfranken. 

Der Onkel sprach auch von einer möglichen Grenzöffnung. Es wäre was „im Busch“. Er sprach von einer möglichen Einheit von Ost und West. Davon, wie lange es seiner Meinung nach dauern würde, bis diese beiden Staaten irgendwann „einigermaßen“ und so „richtig“ vereint wären – wenn es denn überhaupt jemals passieren würde. Seiner Meinung nach würden mindestens 25 Jahre darüber vergehen. 

Wir nickten. Alles unvorstellbar. Grenzöffnung. Ach du liebe Zeit! Wir hatten die strengen Grenzer gesehen. Völlig ausgeschlossen. Und dann diese 25 Jahre von der der Onkel sprach. Eine Ewigkeit. 

Wir dachten in Wochen, vielleicht noch in Monaten, aber weniger in Jahren zu dieser Zeit in unserem Leben. Wir dachten darüber nach, wann wir unseren Liebsten wieder sehen würden und wann der nächste Urlaub anstand. Oder wo wir hinziehen würden, wenn wir unsere Ausbildung fertig hätten.

Das Leben in der DDR ging uns wenig an und hatte noch weniger mit uns zu tun. Sicherlich war hier vieles schlimm. Was jedoch genau, lag jenseits unserer Vorstellungskraft. Nach Kaffee und Kuchen machten wir uns auf den Weg. Wir hatten für den Abend unser Ost-Geld in Opernkarten für die „Komische Oper“ investiert. Schließlich musste das Transitgeld unter die Leute gebracht werden. Es wurde „Orpheus und Eurydike“ von Christoph Willibald Gluck gespielt. Die Musik wunderbar. Die Sessel waren rot und plüschig. So musste Oper sein – so war Oper. Auch hier in Ost-Berlin. 

Anschließend wanderten wir zum U-Bahn Übergang Friedrichstraße. Überall standen Kamerateams. Der ganze Übergang war gefüllt mit Menschen. Vor uns wurde ein DDR-Bürger von einem Grenzer angeschrien, der offensichtlich „rüber machen“ wollte. „Nur unter Abgabe seiner Pässe!“ Der Mann trat einen Schritt zurück. Es war eine merkwürdige Stimmung. Eine sehr merkwürdige Spannung, die da in der Luft lag. Andererseits: Da konnten sie in Leipzig noch so laut: „Wir sind das Volk“ rufen. Gegen ein ganzes Regime kommt man nicht an, das wusste man doch. Das wussten selbst wir „vom Land“.

Die Freundin und ich überprüften sicherheitshalber den Sitz unserer Frisuren – für den Fall, dass wir ins Fernsehen kommen sollten und fuhren los. Alles verlief ruhig. Was sollte auch groß passieren in der uns bekannten Welt. In Spandau fielen wir in unsere Gastbetten.

Am nächsten Mittag dauert es sehr lange, bis unser Fahrer der gebuchten Mitfahrzentrale kam. Aus dem Auto stieg ein zerknautschter junger Mann, der sich artig entschuldigte, weil er so spät kam. „Aber – hey. Das war ja auch eine Nacht vielleicht. Wart ihr auch auf der Party?“ „Welche Party?“ „Na überall. Die Grenze ist auf!“ „Nein!“

„Doch!“

Während wir in unseren Betten lagen, geschah das Wunder der Grenzöffnung. Die Wiedervereinigung zweier Länder. Der Wille der Volkes, der nicht mehr zu überhören war. Wir brauchten 15 Stunden bis in unsere Kleinstadt. Unsere Party fand auf der Autobahn statt. Mit stinkenden Trabis rechts und links von uns im Freudentaumel. Ost und West vereint auf der Autobahn. Wir teilten gemeinsam unsere Getränke. 

Heute wohnt meine Schwester in dem Stadtteil in Berlin, in dem wir einst den Onkel besuchten. Es ist ein schöner Kiez – ich bin gerne dort. Alles ist zusammengewachsen. Die Menschen, die Gerüche und die Farben. Der Onkel hatte recht: „es dauerte lange, bis es zusammenwächst. Mittlerweile aber muss man sehr genau hinschauen, um das „Vergangene“  wahrzunehmen. Und jedesmal wenn ich im Übergang Friedrichstraße umsteige, erinnere ich mich kurz zurück.

Zu den Erinnerungen

von Martin Bek-Baier

und Susanne Borée