Lebensmaxime: Sei ein Mensch

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Inge Wollschläger, Evangelisches Sonntagsblatt aus Bayern
Inge Wollschläger, Mitglied der Redaktionskonferenz im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern, Hintergrundbild von Erich Kraus.

Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Inge Wollschläger

Es gab eine Gedenkstunde zum 79. Jahrestag der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz im Deutschen Bundestag. Dieses Jahr war einer der Redner der ehemalige Sportmoderator Marcel Reif. Den Namen kannte ich und auch, dass er Fußball oder Eishockey moderiert hatte. Darüber hinaus war mir nichts über diesen Mann bekannt. Es hätte auch keinen Grund gegeben. Beide Sportarten gehören nicht zu meinen Interessengebieten. 

Doch nun hatte er eine Rede gehalten, die mir auf den Sozialen Netzwerken in kurzen Sequenzen immer und immer wieder angezeigt wurde. Irgendwann klickte ich dann doch auf den Link und hörte sie mir an. Ich erfuhr Teile seiner Lebensgeschichte und war anschließend tief bewegt. 

Marcel Reif, der als Sohn eines Holocaust-Überlebenden für die zweite Generation der Opfer sprach, erzählte darüber, wie sein Vater über sein erlebtes Grauen schwieg, um ihn – den Sohn – zu behüten. Sein jüdischer Vater hatte im Gegensatz zu seiner Familie den Holocaust durch Rettung überlebt. Es war nur ein kleiner Satz, den Marcel Reif immer wieder von seinem Vater hörte – mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder Tadel, wie der Sportjournalist im Bundestag sagte. Nur drei kleine Worte: „Sei a Mensch – sei ein Mensch.“ 

Eine fröhliche, sorgenfreie, liebevolle Kindheit und Jugend habe er gehabt, so erzählt er: „Fröhlich und sorgenfrei nicht zuletzt, weil mein Vater schwieg. Er sprach nicht, und ich fragte nicht.“ Reif sagt, dass es vor allem „Angst war, Unsagbares zu hören, Unfassbares erfassen und Unerträgliches ertragen zu müssen. Bilder des Grauens, was man meinem großen, starken Vater angetan hatte. Die Wahrheit war doch eindeutig genug: Ich hatte keine Großeltern, und ich wusste, warum.“

Und trotz viel Leid bekam der Sportmoderator diesen Lebenskompass seines Vaters mit auf den Weg: „Sei a Mensch!“ – „Sei ein Mensch!“

Die drei kleinen Worte enthalten alles, was es für eine gelingende Gemeinschaft braucht. Und ich stimme Marcel Reif zu, wenn er zu den Demonstrationen gegen Rechts, die derzeit überall stattfinden, sagt: „Aber was da zuletzt zu hören und zu sehen war, die großen Demonstrationen der Aufrechten, das macht mir Hoffnung.“