Vorsorge statt Rücksicht (Achtung: eine Glosse!)

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Editorial von Susanne Borée, Redakteurin und Chefin vom Dienst beim Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Kommentar im Evangelischen Sonntagsblatt von Susanne Borée zur Gaskrise

Jetzt ist es höchste Zeit, um Wolldecken und Heizlüfter zu kaufen! Denn der nächste Winter wird kalt. Das klingt wie eine Binsenwahrheit, ist aber eine aktuelle Bedrohung: Niemand weiß, ob es genug Gas in den Speichern gibt. 

Über die Steckdose und den Heizlüfter ein warmes Zimmer zu bekommen – das ist zwar geradezu das Gegenteil von Nachhaltigkeit, doch spiegelt es besonders gut unseren Lebensstil wider: Nehmen, was geht. Vorsorgen ohne nachzudenken. Strom wird es wohl im Winter noch mehr als Gas geben – zumal, wenn die Laufzeit der Atomkraftwerke so verlängert wird, wie immer öfter gefordert.

Wozu grundlegend umdenken?  Durchwursteln ist doch viel einfacher! Nachhaltige Konzepte entwickeln – wie altmodisch! In einer Zeit der Torschlusspanik heißt es ganz vorne mit dabei zu sein. Und das Leben bis zum letzten Funken zu genießen beim Tanz auf dem Vulkan. Flugscham war vorgestern, Rücksichtnahme auch. Noch einmal rund um die Welt reisen. 80 Tage braucht es dazu längst nicht mehr – das geht ex und hopp längst viel schneller! Noch einmal ein riesiges Feuerwerk abfackeln, bevor die Kälte beginnt – und Corona aufersteht. 

Krieg und Corona, Inflation und Ideenlosigkeit – alles gleichzeitig wird uns vielleicht dann so richtig an die Grenzen führen, an denen vielleicht sogar etwas Neues geschehen kann. Es wäre richtig spannend, wie es aussehen könnte! Doch offenbar fehlt uns dazu die Vorstellungskraft

Langweilige Zeiten – auch das war gestern. Das hatten wir in den vergangenen Jahrzehnten seit dem Mauerfall und der Wiedervereinigung Europas zu Genüge. Geschichtsträchtige Epochen sind selten solche, in denen es den Menschen so richtig gut ging. 

Auch wenn hirzulande das Leid zunimmt, noch erscheint unser Jammern eher rücksichtslos als steinerweichend! Da sollten wir uns nicht so gedankenlos unseren Ängsten vor den Widrigkeiten des Lebens überlassen! 

Ja, natürlich habe ich genauso Angst davor, wie offenbar der Rest der Bevölkerung, dass der Wind der Geschichte uns ins Gesicht bläst. Dass wir mehr Geld in Lebenshaltung und Wärme stecken müssen als zuvor. Dass weniger für Urlaub und Freizeit übrigbleibt. 

Doch schließlich wollen wir dem Bibelwort zum Durchbruch verhelfen: „Denn wer da hat, dem wird gegeben, dass er die Fülle habe; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen, was er hat.“ (Mt 25,29). Das nennen die Soziologen gar „Matthäus-Effekt“. Ach, wie gut, dass es Google und Wikipedia gibt. Da soll noch jemand sagen, dass die Bibel keine Bedeutung mehr hat für den Alltag!

Da kann ich dann ordentlich klug daherreden, selbst wenn ich diesen Begriff zuvor nicht kannte. Das besagt schlicht und einfach: Aktuelle Erfolge entstehen mehr durch frühere Erfolge, und weniger durch gegenwärtige Leistungen. Kleine Anfangsvorteile können so zu großen Vorsprüngen heranwachsen, während die Mehr-heit erfolglos bleibt.

Dies scheint sogar beim Anhäufen von Wolldecken und Thermo-Unterwäsche als Sicherung gegen die Ungewissheiten der zukünftigen Kälte zu gelten. Sie kosten zumindest nur bei der Herstellung Energie und Ressourcen, die dann wieder woanders fehlt.  

Genug klug geschrieben! So, jetzt muss ich aber los, schließlich fehlen mir selbst noch die Heizlüfter und genügend warme Klamotten!