Einübung in Gemeinschaftsgeist und Lebensfreude

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Editorial Inge Wollschläger im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Inge Wollschläger

Wir suchen sehr sorgfältig eine Blumenvase für meinen kleinen Blumenstrauß aus. Auf dem Tisch liegen zwei Glückwunschkarten. Eine von mir, die andere von einer Bekannten aus der Kirchengemeinde. „Ich dachte ja, ich habe erst morgen Geburtstag!“, sagt sie und fährt sanft mit dem Finger die aufgeprägten Blumen auf der Karte nach. „Das hier ist Schierling. Den haben wir Kinder immer gesammelt.“

Sie erzählt von früher. Als ihre Groß-mutter immer einen „Gesundheitskuchen“ buk, den sie zum Geburtstag anschneiden und noch vor der Schule ein Stück
essen durfte – der Rest blieb für die Großmutter und ihre nachmittäglichen Gäste, denn beide teilten sich den Geburtstag. Wir rechnen aus, dass „Oma Anna“ 142 Jahre alt sein würde. Wir bewundern die hübschen Blumen und schauen gemeinsam alte Fotos an. 

Es gibt keine weiteren Gratulanten an dem Tag. Die meisten in ihrem 88-jährigen Leben sind „schon in der Ewigkeit“ und werden mit einem tiefen Seufzen vermisst. Es gibt keinen Kuchen und wäre ich nicht gekommen: Der Tag wäre vorbeigegangen, wie eben jeder Tag vergeht. 

Abends besuchte ich meinen Vater, der ebenfalls Geburtstag hat. Es wird ein bisschen eng, als der Kirchenchor anrückt und anschließend der große Posaunenchor sich seinen Platz sucht (danke an dieser Stelle dem Kirchen- und Posaunenchor Leuzenbronn. Ihr wart großartig!). Das halbe Dorf – so scheint es – ist gekommen, um Glückwünsche, Geschenke und Wertschätzung zu überbringen. Es wird musiziert und es werden Reden gehalten. Mein Vater steht inmitten dieser Wolke des Miteinanders und Wohlwollens.

Für mich ist es an diesem Tag ein absolutes Kontrastprogramm, das ich da erlebte. Zwei Stunden zuvor Einsamkeit und ein Abgeschiedensein von der Welt – und nun mittendrin im Leben. 

Ob sie sich über so viel Aufmerksamkeit gefreut hätte? Hätte sie es genießen können, wo sie es seit Kindertagen gewohnt ist, noch nicht einmal einen Kuchen ihr eigen nennen zu dürfen? 

Vielleicht bedarf es einer lebenslangen Übung, sich Freundschaften zu erhalten und neue beginnen zu können. Ebenso die Freude am Leben und dem Moment, der gerade ist zu feiern. Dieser Tag war ein großer Lehrmeister für mein eigenes Leben.