Eigene Erfahrungen bei erneuter Teilnahme an den „Ökumenischen Alltagsexerzitien“
Ach, in dieser ereignisreichen Zeit fiel es mir richtig schwer, mit den Ökumenischen Alltagsexerzitien zur Ruhe zu kommen. Denn eine Schreckensnachricht jagte schließlich die andere. All die furchtbaren Ereignisse in der Ukraine trieben mich zutiefst um. Immer wieder schweiften meine Gedanken schnell ab zu Unerledigtem, sobald ich zur Ruhe kommen wollte.
Noch vor dem Ausbruch des Krieges hatte ich mich erneut wie im vergangenen Jahr zu den Alltagsexerzitien angemeldet. Diesmal stan-den sie unter dem Thema „frei“. Das passte natürlich wie die Faust aufs Auge zur Situation in der Ukraine!
Doch kam gleich am ersten Tag der Exerzitien zur Sprache, wie sich diese Zeit in den Alltag verankern lässt: „Zu Beginn der Exerzitien darf ich mir die Freiheit nehmen, auf mich selbst zu schauen: Was bringe ich mit aus meiner Lebensgeschichte? Ich hier: Was ist bei mir zurzeit eigentlich los – innerlich wie äußerlich? Was treibt mich um? Was bindet meine Aufmerksamkeit?“
Fünf verschiedene biblische Geschichten kommen in den Wochen der Exerzitien zur Sprache, die das Thema der „Freiheit“ durchbuchstabieren wollen: Der blinde Bartimäus (Markus 10), dann in der zweiten Woche der Exodus des Volkes Israel.
In der dritten Woche kehrte das Geschehen ins Neue Testament zurück: Der Verlorene Sohn (Lukas 15) zeigte, wie sich auch der Aufbruch zur Unabhängigkeit verspielen lässt – und dennoch eine Rückkehr möglich ist. Weiter ging es mit Zachäus, der vor Jesus auf einen Maulbeerbaum steigt (Lukas 19). Schließlich vollendete die fünfte Woche die Zusage Gottes zur Freiheit: Er will uns begleiten und trösten. Psalm 23 („Der Herr ist mein Hirte“) ließ sich damit neu durchbuchstabieren. Nehmen wir dies an?
Uff! Ein wahnsinniger Ritt durch die Bibel! Hin und her, vor und zurück. Hinzu kam, dass auch die Einheiten in sich ganz unterschiedlich zur Entfaltung kamen: Körperwahrnehmung und Atemübungen umrahmten die Exerzitien in der ersten sowie in der vierten und fünften Woche. Dazwischen fanden die Besinnungen mehr im Kopf statt. Unterschiedliche Teams haben die Wochen gestaltet, hieß es. Was trägt?
Aufspringen und Aufschrei
Bartimäus schreit nach Jesus, der vorübergeht – und dringt endlich zu ihm durch. Jesus „erbarmt“ sich. Da kam mir gleich das alte Kirchenlied in den Sinn: „Mir ist Erbarmung widerfahren – Erfahrung, derer ich nicht wert“. Und in der 2. Strophe: „Ich hatte nichts als Zorn verdienet / und soll bei Gott in Gnaden sein.“
Nach einer ersten Meditation habe ich diesen Begriff nachgeschlagen: „Rächäm“ bedeutet im Hebräischen auch „Mutterschoß“ oder „Gebärmutter“. Also vollkommene Geborgenheit statt „Zorn“. Das Lied spiegelt sicher die Erfahrung der Rechtfertigung Luthers – aber macht es uns nicht zu klein? Da hat mich einmal mehr der „Schutzmantelchristus“ am Friedwald auf dem Schwanberg angerührt. So viele unterschiedliche Figuren begeben sich in seinen übergreifenden Schutz. „Gott hat mich mit sich selbst versühnet“, geht das Lied weiter.
Als Bartimäus endlich Antwort bekommt, hält ihn nichts mehr, sodass er aufspringt. Anfang März habe ich gleich an dem Treffen einer Ökumenischen Gemeindegruppe bei uns vor Ort teilgenommen. Anhand des Titelblattes zu den Alltagsexerzitien hatten wir weiter das Thema „Aufspringen“ umkreist.
„Was willst du, dass ich dir tue?“ Diese Antwort Jesu auf den Aufschrei des Blinden (Markus 10,51) forderte mich heraus. Ist ja klar, was er von Jesus will. Und ich? Gerne will ich, dass ‚alles‘ anders ist als in der Realität. Aber mit welchen Inhalten genau soll die Zukunft gefüllt sein? Welche Begegnungen erhoffe ich – und schätze sie dann auch wert? Das ist weitaus schwieriger.
Oft schreie ich wohl auch zu laut auf – zeige zu schnell meine Verletzungen. Gut, dass Jesus einen nicht zum Schweigen bringt, sondern zu sich hin ruft – wie Bartimäus.
Aufbruch kleiner Schritte
Die zweite Woche führte diesen Gedanken des Aufbruchs weiter – und ging von der Heilungsgeschichte weit ins Alte Testament zurück. Sie näherte sich der Exodus-Geschichte in Israel. Nach dem Durchzug durch das Schilfmeer schleppt sich das Volk Gottes jahrzehntelang durch die Wüste. Wie versorgt uns Gott in Zeiten der Ödnis? Gott gibt uns genau das, was wir aktuell brauchen – aber keine Vorräte über den Tag hinaus – selbst nicht zu diesen Inflations- und Krisenzeiten!
Gerne hätte ich mal ein wenig mehr Kraft über die Bewältigung des Alltags hinaus. Ich könnte sie gut nutzen, um einmal zu ganz neuen Horizonten aufzubrechen. Liegt die Kraft aber wirklich im großen Sprung? Oder vielmehr in den unzähligen kleinen Schritten des Alltags – einer vor dem anderen?
Es waren gerade die kleinen Bilder und Worte, die mich inmitten dieser bekannten Geschichten während der Exerzitien trafen. Den Durchzug durch das Schilfmeer setzten die Alltagsexerzitien in Beziehung zu dem Bild eines antiken Taufbeckens. Grob behauene Stufen führen tief hinab. Unten weitet es sich kreuzförmig, bevor es sich wieder zu den Treppen hinauf verengt.
Tief hinab durch das Schilfmeer – hoch hinauf zum Berg Gottes. Trotz all dieser Erfahrungen beim generationenlangen Durchzug durch die Wüste scheint das Volk Gottes durch Unzufriedenheit seine Freiheit zu verspielen. Wie der Bruder des Verlorenen Sohnes, der uns in der dritten Woche begegnet? Welche Freiheit wünscht er sich – anstatt immer Erwartungen erfüllen zu müssen? Hat der Vater nicht einmal sein Bemühen gesehen?
Muss er sich dazu nicht erst lächerlich machen wie Zachäus, über den es in der vierten Woche nachzudenken gilt? Vor allen Augen ist dieser als erwachsener Mann auf einen Baum gestiegen, da er sowieso keinen Platz in der ersten Reihe bekommt und der Schutzmantel Jesu nicht für ihn ausgebreitet ist. Halt – umgekehrt! Jesus kommt zu ihm. „Welche Einengungen oder Verhärtungen will ich zurücklassen?“, so hier der Perspektivwechsel – bevor der Frühjahrsputz alles durchlüftet.
Auch für Zachäus ist der „Herr sein Hirte“, wie es die fünfte und letzte Woche entfaltet. Insofern ist der Durchzug durch die Exerzitienzeit doch sehr durchdacht – auch wenn ich so intensiv damit gekämpft habe. Da bin ich sogar langsam mehr zur Ruhe gekommen, als ich mir hätte vorstellen können.
Nun sind wir noch nicht ganz so weit, um in die letzte Woche der Passionszeit zu gelangen – doch vielleicht lohnt schon ein kleiner Blick über den Zaun. Wie lässt sich „den neuen Wegen vertrauen?“ – über Ostern hinaus „mit mir selbst versühnet“ zu sein? Dort „alle Zeit“ zu bleiben – ohne dass es zur Routine wird und leeres Getriebe meine Aufmerksamkeit bindet?
Mehr zu den Alltagsexerzitien online unter https://alltagsexerzitien.de