„Erschüttert, fürchterlich, bedrohlich“

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Kerzen für die Ukraine beim ersten Nürnberger Friedensgebet. Foto: epd/M
Kerzen für die Ukraine beim ersten Nürnberger Friedensgebet. Foto: epd/M

Friedensgottesdienste, Kontakt zu Bekannten in der Ukraine, Vorbereitung auf Flüchtende

Eine Frau aus dem südostukrainischen Cherson – unweit der Landbrücke zur Krim – berichtete nach Kriegsausbruch nach Nürnberg, dass die Kinder eines benachbarten Kinderheimes in den Keller unter der benachbarten Kirche evakuiert wurden. Die meisten sind jünger als vier Jahre, verängstigt und verstört. Diese Informationen gab Sabine Arnold von der Nürnberg SinN-Stiftung, die sich seit Jahren um Aussiedler kümmert, an das Sonntagsblatt weiter. „Ich habe so viele tränenreiche Gespräche geführt“, sagte Arnold, die seit Jahren Spätaussiedler aus Russland, aber auch Flüchtlinge aus der Ukraine betreut.

Sie brachte deren Schicksal in die Nürnberger Lorenzkirche am Samstag, 26. Februar, zum dortigen Friedensgottesdienst für die Ukraine vor Gott – nachdem sich schon direkt nach Kriegsbeginn Menschen zu einem ersten Friedensgebet in der Nürnberger St. Leonhards-Kirche zusammengefunden hatten.

Schon nach der ersten Friedensandacht in St. Leonhard war auffällig, dass „von unseren russischen Leuten“ so wenige da waren. Viele haben noch gearbeitet, sagt eine; „sie haben vielleicht Angst, dass sie sich rechtfertigen müssen“, mutmaßt eine andere. 

„Die Frau aus Cherson selbst hat gemeinsam mit ihren Nachbarn im Keller ihres Hauses vor Bomben und den Kämpfen auf der Straße Schutz gesucht. Darunter auch vier Kinder“, so Sabine Arnold weiter. „Gebaut wurde es von ihren Großeltern, einem Maurer und einer Weberin, die in den 1950er Jahren aus der Nähe von Moskau hierher umgesiedelt worden waren. Wenn der Großvater wüsste, sagt sie, dass seine Enkeltochter nun im Keller seines Hauses sitzt und um ihr Leben fürchtet, weil russische Truppen Cherson einnehmen wollen.“

Sich miteinander verbinden

In dem Friedensgottesdienst appellierte auch die Nürnberger Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyhern: „Bleiben wir als Christinnen und Christen auf allen Seiten weiterhin Botschafter der Hoffnung, dass es ein Zusammenleben in Frieden in aller Verschiedenheit geben kann.“ Sie rief dazu auf, diese Bitte aufzunehmen: „Wenn wir beten, verbinden wir uns miteinander. Beten können wir füreinander nur in einer Haltung des gegenseitigen Wohlwollens.“ Der Gottesdienst gebe Hoffnung, denn er zeige, „dass der Schmerz uns vereint statt trennt“. Stadtdekan Jürgen Körnlein zeigte sich ebenfalls tief erschüttert. 

In ganz Bayern und ganz Deutschland fanden in diesen Tagen Gottesdienste und Friedensgebete für die Ukraine statt. Aus Kitzingen oder Schweinfurt, Fürth oder München erreichten das Sonntagsblatt Aufrufe zu Friedensgottesdiensten. Auch Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm betete mit seinem katholischen Amtskollegen Reinhard Marx für die Ukraine.

Ängste vor Gott gebracht

Doch hat in Nürnberg Sabine Arnold stellvertretend Schicksale gesammelt und vor Gott gebracht, mit denen sie nach Kriegsbeginn persönlich in Kontakt war. Ein alter Mann aus Odessa erzählt, dass er an einer Krebserkrankung leide und auf ständige ärztliche Versorgung angewiesen sei, aber die Arztpraxen und Polikliniken seien geschlossen und eine weitere Behandlung nicht mehr möglich.  

Arnold weiß von weiteren Männern in der Ostukraine, die sich in Kellern versteckt haben, weil sie sich vor Zwangsrekrutierungen in die russische Armee fürchten. Ehemalige Nachbarn seien zu Feinden geworden, es sei immer wieder zu Auseinandersetzungen, zu Gewalttaten, ja zu Folterungen gekommen. 

„Es macht mich fassungslos. Traurig! Wütend! Alles auf einmal, irgendwie gleichzeitig und im Ergebnis fühle ich mich hilflos“, fuhr Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyhern fort. Sie rief die Gottesdienstbesucher auch dazu auf, wachsam zu sein gegenüber Falschinformationen, Propaganda und Hassreden. „Seien wir vorsichtig, was wir zum Beispiel in sozialen Medien teilen und wem wir das Wort reden“, sagte sie. „Liebe soll unser Leitmotiv sein, nicht Hass. Mitleid, statt Häme. 

Und Sabine Arnold ergänzt ihre Berichte von einem Mann auf der Krim, der den Abmarsch russischer Bodentruppen in Richtung Ukraine beobachtete. „Er war tief besorgt, weil das, was er sah, nicht mit den offiziellen Nachrichten übereinstimmt, die er im Radio gehört hatte.“

Geflüchtete erwartet

Die Europäische Union rechnet mit mehreren Hunderttausend Geflüchteten aus der Ukraine – auch der Freistaat bereitet sich vor. Hunderttausende fliehen. Darunter auch Vlad, ein junger Mann, der bis zum vergangenen Jahr in Fürth lebte. Obwohl taub hatte er sich dort als Ehrenamtlicher für die Aussiedlerarbeit engagiert. Dann wurde er mit seiner Familie in die Ukraine abgeschoben, obwohl er hier zur Schule ging. Inzwischen konnte er einen Zug erwischen, der Richtung Polen fuhr. „Wir beten darum, dass sie es schaffen werden.“ Gleichzeitig bemüht sich Arnold, sein Einreiseverbot nach Deutschland aufzuheben.

Auch in München – der Partnerstadt Kiews – sind die Vorbereitungen in vollem Gange. Die Diakonie München und Oberbayern rechnet mit einer „hohen Zahl“ an Geflüchteten aus der Ukraine, vor allem mit vielen Älteren und Familien mit Kindern. Bereits seit Monaten steige die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge, sagte Migrations-Expertin Andrea Betz. Dort machten
Ukrainer zuletzt die größte Gruppe der Neuankömmlinge aus. Die Diakonie ist zuständig für die Sozialbetreuung im Münchner Ankunftszentrum für Geflüchtete. 

Die besondere Aufmerksamkeit gelte auch Geflüchteten, die bereits kamen. Denn diese sorgten sich angesichts der „schrecklichen Kriegsbilder“ um ihre Angehörigen. In den Migrationsberatungsstellen liefen derweil die Telefone heiß, sagte Betz weiter. Viele Ukrainer in München wollten sich informieren, wie sie ihre Angehörigen hier unterbringen können. Insgesamt leben 8.000 Ukrainer in der Landeshauptstadt.

Bei der Unterbringung der Menschen setzt Nürnberg auch auf die ukrainische Gemeinschaft. Derzeit leben dort rund 4.200 Menschen aus der Ukraine. Gleichzeitig sammelt noch der Partnerschaftsverein Nürnberg-Charkiw Spenden für die ostukrainische Stadt – obwohl der offizielle Kontakt in den letzten Tagen immer wieder gestört war und sich nur über private Handys aufrechterhalten ließ. 

Die Aussiedlerbeauftragte Arnold sagte, man wolle um Beistand bitten und sich gegenseitig halten und trösten. „Erschüttert, erschrocken, fürchterlich, bedrohlich“ – diese fassungslosen Begriffe hat Arnold schon am ersten Kriegstags unzählige Male gehört und gesprochen – sie sollen nicht das letzte Wort bekommen.

Redaktionsschluss: 28.2.2022