Editorial von Inge Wollschläger im Evangelischen Sonntagsblatt
Das Editorial zum Hören:
Und zum Nachlesen:
Es dauerte ein bisschen, bis sich der alte Mann aus dem Sofa mit der tiefen Sitzfläche aufgerappelt hatte. Die junge Frau zu seiner Linken half ihm dabei. Dann ging er zum Mikrofon, das in der Mitte des Altarraumes stand. Dort im Schein des grellen Scheinwerfers begann er. An diesem Abend bei der „Nacht der offenen Kirchen“ war er mit Abstand einer der Ältesten. Er nahm an einem „Preacher Slam“ – einer Art Dichterwettstreit – teil. Als er Monate zuvor gefragt wurde, überlegte er nicht lange und sagte zu. Eine neue Herausforderung? Warum nicht. Dafür war er in jedem Fall zu haben.
Er ist viele Jahre älter als ich. Wann immer ich ihn treffe und mit ihm ins Plaudern komme bin ich tief beeindruckt von seiner scheinbar nie enden wollenden Lebensneugierde. Sicherlich plagt ihn auch das ein oder andere Zipperlein. Aber dafür hat er keine Zeit – so scheint es. Und wenn, es hält ihn nicht davon ab, neue Dinge auszuprobieren, sich in Unbekannte Themen „einzuarbeiten“ und sich über einen Wissenszuwachs zu freuen.
Für mich ist er damit definitiv ein Vorbild in der Frage: Wie möchte ich meine Zeit verbringen, wenn ich einmal alt bin? Mit welchen Aktivitäten kann ich meinen Alltag gestalten? Wie erhalte ich mir meine Lebensfreude, wenn mich immer öfter Krankheits- und Todesnachrichten von lieben Menschen erreichen?
Sicherlich gehört viel Gnade dazu, im hohen Alter noch fit und rüstig zu sein. Nicht jedem ist dies vergönnt.
Er erlebt es. Und so füllt er nicht den Tag mit Stunden, sondern seine Stunden mit Leben. Er pflegt auf viele Arten Kontakte zur Familie und zu Freunden. Ihm scheint es egal zu sein, ob Menschen in seinem Alter sind oder nicht. Er genießt Begegnungen, die seinen Horizont erweitern.
Wir alle brauchen solche Vorbilder. Menschen, die einem ihre Sicht auf die Welt „vorleben“. In seinem Text auf der Bühne des „Dichterwettstreits“ erzählte er von besonderen Menschen aus der Bibel: Von David und Judith, von Jesaja und Ruth. Vielleicht sind diese für manche ebenfalls Rollenvorbilder in der Art, wie sie ihr Leben gestaltet haben.
Der 84-Jährige jedoch – wie er in seiner Strickjacke gekleidet im Rampenlicht stand und seinen Text vortrug – wird in meinem Herzen einen ähnlichen Platz einnehmen.