Neues wächst schon über der Zerstörung

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von der Nürnberger Regionalbischöfin Elisabeth Hann von Weyhern

Die Güte des Herrn ist’s, dass wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß. Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. […] Denn der Herr verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. 

Klagelieder 3, 22–26.31–32

„Ach, wie liegt die Stadt so wüst, die voller Leben war“, so beginnen die biblischen Klagelieder. Sie beziehen sich auf die Zerstörung Jerusalems im Jahr 587 vor Christi Geburt. Unaufhaltsam, mit der Gewalt einer verheerenden Flut waren damals die Chaldäer in die Heilige Stadt eingedrungen. Viele Bewohner wurden niedergemacht. Bald herrschte große Not. Seuchen verbreiteten sich wie zerstörerisches Feuer. Kinder wimmerten nach Brot. Alle Hoffnung war dahin. 

Wie hatte es dazu kommen können? Was wurde versäumt? Warum war nicht auf die Warnungen der Propheten gehört worden? Hatte man zu unbekümmert auf den besonderen Schutz Gottes für sein Haus gesetzt? So wie es aus dem Psalmwort bekannt ist: „Wenngleich das Meer wütete und wallte und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind.“ (Psalm 46) 

Vielleicht sind die Klagelieder erstmals bei einer Gedenkfeier auf den Tempelruinen erklungen. Jedes Jahr im Sommer wird bis heute in den jüdischen Gottesdiensten der Zerstörung Jerusalems mit einer Lesung aus den Klageliedern gedacht. Um diese Zeit herum wird am 10. Sonntag nach Trinitatis auch in unseren Kirchen in Klage und Lob dieses biblischen Gesangs eingestimmt. 

Er spricht von bitterer Trauer, trostlosem Schmerz und ist voll bewegender Selbstanklage. 

Doch mitten in dieser unerhörten Klage klingt es überraschend hoffnungsvoll: Noch hat Gott nicht aufgehört, sich freundlich zu erweisen. Noch hat er nicht aufgehört, sich zu erbarmen: Ja, er tut es jeden Morgen neu. O Gott, wie ist deine Treue so groß! Der Klagesänger wird zum Lobsänger Gottes: „Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.“

Nach der Erschütterung durch den Zweiten Weltkrieg wurde ein schönes Lied aus der Reformationszeit für unser Gesangbuch wieder-entdeckt: „All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu; sie hat kein End den langen Tag, drauf jeder sich verlassen mag“, heißt es da im Nachklang zu unserem Bibelwort.

Ja und Amen möchte ich laut darauf sagen. Gegen alle Ernüchterung und Verzagtheit, gegen eine apokalyptische Untergangsstimmung: Jeder Morgen ist ein neuer Anfang, jeder Tag birgt neue Chancen. Das Alte ist vergangen, das Neue wächst schon. 

Elisabeth Hann von Weyhern, Regionalbischöfin im Kirchenkreis Nürnberg

rotabene
An dieser Stelle schreiben verschiedene Autoren für das Evangelische Sonntagsblatt.