„Öffne dich!“

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt über die Heilung des Gehörlosen und Stummen

Sie brachten zu Jesus einen, der taub war und stammelte, und baten ihn, er möge ihm die Hand auflegen. Er nahm ihn beiseite, von der Menge weg, legte ihm die Finger in die Ohren und berührte dann die Zunge des Mannes mit dem Speichel; danach blickte auf zum Himmel, seufzte und sagte: Effata!, das heißt: Öffne dich! Sogleich öffneten sich seine Ohren, seine Zunge wurde von ihrer Fessel befreit und er konnte reden. 

aus Markus 7, 31–32

Vor einigen Jahren gab es eine Talk-Show, in der auch Gehörlose anwesend waren. Es ging darum, welche Wünsche Eltern für ihre zukünftigen, noch ungeborenen, Kinder hätten. Zur Diskussionsgruppe gehörte auch ein gehörloses Ehepaar. Befragt, ob es ihnen etwas ausmachen würde, wenn ihr Kind, das sie erwarteten, gehörlos geboren würde, antworten sie: „Egal, ob hörend oder gehörlos – Hauptsache unser Kind ist gesund.“ 

Wer viel mit Gehörlosen zu tun hat, weiß, dass das größte Problem für sie ist, dass die Gehörlosigkeit Menschen von Menschen trennt. Dies kann man auch in Bezug auf Schwerhörigkeit sagen. Man kann nicht miteinander reden und ist auf die eigenen Hände, den Gesichtsausdruck, die „Körpersprache“ im weitesten Sinn angewiesen, wenn man sich mitteilen und wenn man andere verstehen will. 

Hauptsache, unser Kind ist gesund: Ich vermute, dass die Eltern damit nicht nur gemeint haben, dass ihr Kind nicht mit einer Krankheit geboren wird. Es ging ihnen wohl noch um mehr: Hauptsache, das Kind findet in seiner Familie eine Heimat. Findet Freunde, mit denen es sich austauschen kann. Findet in seinem Leben Menschen, die es lieben und die es verstehen. 

Effata! Öffne dich! – diese Worte Jesu haben auch Verwendung im frühchristlichen Taufritus gefunden. Dem Täufling werden mit dem Sprechen des  Wortes „Effata!“ Ohren und Mund berührt. Die Bedeutung dieser Handlung ist nicht schwierig nachzuvollziehen: Der Mensch, der getauft wird, soll ein offenes Herz bekommen. Es genügt eben nicht, das Wort Gottes nur mit den Ohren zu hören. Es gilt, es mit dem Herzen zu verstehen. 

Die Heilung eines Menschen, der taub war und stammelte, ist für mich deswegen so etwas wie die Pfingstgeschichte des Markusevangeliums. Sie erzählt nicht nur von einem medizinischen Vorgang. Sie erzählt vor allem von der Heilung, von Gemeinschaft. Christen sollen keine Recht-Haber sein, sondern zuerst einmal einander zuhören, mit Verstand und Herz. Ein Mensch, der, weil taub, von der menschlichen Gemeinschaft weitgehend ausgeschlossen ist, erhält die Möglichkeit, mit „den Anderen“, die hören, zu reden. Sich auszusprechen, sich mitzuteilen. Die Reaktion der Zeugen, der Männer und Frauen die alles
beobachten, zielt deswegen weniger auf das Wunder als vielmehr auf das, was dadurch ermöglicht wird: „Er hat alles gut gemacht; er macht, dass die Tauben hören und die Stummen sprechen.“

Die Heilung des Tauben hat jeder christlichen Gemeinschaft ein Bild vorgegeben: Das Herz zu öffnen für das Wort Gottes und für den Mitmenschen. Der sich manchmal nach nichts mehr sehnt, als danach verstanden zu werden.

Nachbemerkung: Seit 2017 gibt es in unserer Landeskirche die gebärdensprachliche Gemeinde. Die Kirche hat damit, ganz im Sinne unserer Erzählung, gehörlosen Menschen Raum gegeben, sich in unserer Gemeinschaft einzubringen. Hier ist ihnen eine „Stimme“ und ein Ort gegeben worden, an dem sie Verständnis finden. Die Kirche ist dadurch „reicher“ geworden.

Rolf Hörndlein, Landeskirchlicher Beauftragter für Schwerhörigenseelsorge; Gehörlosenseelsorger für die Gemeinde Aischgrund