Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt über das Finale der Josefsgeschichte
Die Brüder Josefs fürchteten sich in Ägypten als ihr Vater gestorben war, (…). Darum ließen sie Josef sagen: „Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters!“ Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: „Siehe, wir sind deine Knechte.“ Josef aber sprach zu ihnen: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes Statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.
aus 1. Mose 50, 15–21
Der Schluss der Josefsgeschichte. Erinnern wir uns: Der Erzvater Jakob hatte zwölf Söhne. Josef ist der zweitjüngste und wird vom Vater bevorzugt. Deshalb und wegen seiner eigenartigen Träume zieht er den Ärger der Brüder so sehr auf sich, dass sie ihn loswerden wollen. Statt ihn zu töten, wie zunächst geplant, verkaufen sie ihn als Sklaven nach Ägypten. Dem Vater berichten sie vom Angriff durch ein wildes Tier.
In Ägypten macht Josef eine steile Karriere und wird zum obersten Minister des Pharaos. Durch kluges Wirtschaften rettet er viele Menschen vor der ausbrechenden Hungersnot. Auch Josefs Brüder kommen, um Korn zu kaufen. Josef erkennt sie sofort und holt sie nach einigen Wirrungen samt dem greisen Vater nach Ägypten.
Dann passiert die Szene des Bibeltextes. Die „Missetat“, die viele Jahre zurückliegt, holt alle Beteiligten ein, als der alte Vater stirbt.
Gerade in Familien wiegen gegenseitige Verletzungen besonders schwer, vielleicht, weil Blut auch in dieser Hinsicht dicker ist, als Wasser –man ist sich eben verbunden und näher. Leider werden wir auch an Menschen schuldig, die uns sehr nahestehen: Eltern werden schuldig an ihren Kindern durch all die Erziehungsdefekte, die sie ihnen ungewollt setzen. Kinder werden schuldig an ihren Eltern, weil sie sich nicht genügend um sie kümmern oder nicht nachsichtig genug sind, wenn sie alt sind. Partner werden aneinander schuldig, weil die jeweiligen Bedürfnisse nicht gesehen oder sogar abgewertet werden. Freunde und Freundinnen werden aneinander schuldig, weil sie z.B. mit ungefragten Ratschlägen übergriffig sind, ohne es zu merken: „war doch nur gut gemeint“.
Von diesem Schuldig-werden lenkt das, was Josef zu seinen Brüdern sagt, den Blick weg – woandershin. Auf Gott: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen.“ Gott will es für uns gut machen. – Oft dauert das. Manchmal leider Jahre, wie in der Josefsgeschichte.
Aber bis dahin dürfen wir die Konflikte, Verletzungen, unsere Schuld oder die Schuld anderer an uns vor Gott legen. Manchmal ist dann nach Jahren in der Familie oder mit Freunden Begegnung, vielleicht sogar Versöhung möglich. Und oft ist es im Rückblick so, dass alle etwas gelernt haben aus den Verletzungen und dem Knirschen im System, dass sich Wege aufgetan haben, die ohne den Konflikt nie möglich gewesen wären.
Eine menschliche Grunderfahrung, dass auch aus schweren Konflikten oder schlimmer Schuld Positives wachsen kann. Das macht das Geschehene nicht weniger schlimm und schon gar nicht weg. Aber wenn es dann – leider allzu oft erst im Rückblick – auch den Gedanken gibt, dass trotz allem Leid daneben Gutes wachsen konnte, ja dann ist auch Vergebung nicht mehr weit.
Gabriele Kainz, Pfarrerin, Studierendengemeinde Regensburg