Unser stetiger Weinstock

622
Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über den Weinstock bei Jesaja

Wohlan, ich will singen ein Lied von meinem Freund und seinem Weinberg. Mein Freund hatte einen Weinberg auf einer fetten Höhe. Und er grub ihn um und entsteinte ihn und pflanzte darin edle Reben … und wartete darauf, dass er gute Trauben brächte; aber er brachte schlechte. … Was sollte man noch mehr tun an meinem Weinberg, das ich nicht getan habe an ihm? Warum hat er denn schlechte Trauben gebracht, während ich darauf wartete, dass er gute brächte? Wohlan, ich will euch zeigen, was ich mit meinem Weinberg tun will! … Ich will ihn wüst liegen lassen, … Des Herrn Zebaoth Weinberg aber ist das Haus Israel und die Männer Judas seine Pflanzung, an der sein Herz hing. Er wartete auf Rechtsspruch, siehe, da war Rechtsbruch, auf Gerechtigkeit, siehe, da war Geschrei über Schlechtigkeit.

Sie weint am Telefon. Stockend erzählt sie mir von ihren Beziehungsproblemen. Sie erzählt, dass sie nichts unversucht gelassen hat, ihre Beziehung zu retten, als sich das Paar auseinandergelebt hat. Wer liebt, der leidet unter der Lieblosigkeit des Partners, der Partnerin.

Im Liebeslied vom Weinberg, hören wir: Auch Gott leidet unter Lieblosigkeit. Er, der Liebhaber des Lebens, leidet unter der Treulosigkeit seines Volkes. Der Weinberg ist in der Bibel und im alten Israel Symbol für die Geliebte. Welche Mühe hatte sich Gott mit seiner Geliebten, sprich seinem Volk, immer wieder gegeben.

Die Geschichte Gottes mit Israel aber war immer wieder auch eine Geschichte der Treulosigkeit, ja des „Ehebruchs“. Dennoch hatte Gott die Beziehung nicht aufgegeben, die Hilfeschreie seines Volkes gehört, immer wieder Hilfen und Helfer gegeben.

Wenn wir heute, rund 2.700 Jahre später, dieses Liebeslied hören, dann fordert es uns zum Nachdenken darüber auf, was Gott in unserem Land und in unserem Leben schon alles gewirkt hat. Die Liebe Gottes ist ja immer noch großzügig vorhanden.Doch Jesaja singt hier ein Lied von vergebener Liebesmüh. Was der Weinbergsbesitzer, was Gott erwartet und was Jesaja sieht, klafft himmelweit auseinander: Statt Rechtsspruch – Rechtsbruch, statt Gerechtigkeit – Schlechtigkeit!

Wir brauchen nicht bis zur Zeit des Jesaja zurückzugehen, um ehrlich festzustellen: bei uns in der Gegenwart, im Jahr 2021, sieht es nicht besser aus. Vielleicht hat erst die Corona-Pandemie uns schmerzlich vor Augen geführt, dass auch die scheinbar felsenfesten Selbstverständlichkeiten unseres Lebens keinen Bestand haben. 

Aber ob dies uns Gott gegenüber dankbarer und demütiger gemacht hat? Bringen wir die guten Früchte, die Gott von den Seinen erwartet? Sind wir bereit, auch anderen, von Gottes Liebe, die wir selbst empfangen haben, weiterzugeben? Zu Missständen, Ungerechtigkeiten, Hass und Hetze dürfen wir als Geliebte des Liebhabers des Lebens nicht schweigen. Gott erwartet auch von uns Recht und Gerechtigkeit.

Dabei hat Gott für uns noch viel mehr getan, als für den Weinberg, von dem Jesaja spricht: Gott hat seinen Sohn gesandt, er ist in Jesus Christus selbst zu uns gekommen. Wir kennen den Weingärtner besser als die Hörer Jesajas: Jesus hat uns den Vater gezeigt, hat uns gesagt, wer und wie Gott ist. Gott gibt seine Pflanzung nicht auf. Ebenso wenig lässt er es zu, dass der Weinberg unseres Lebens für immer öde bleibt. Er kann und will immer wieder den Boden bereiten für etwas Neues. Mit Jesus setzt Gott in seinen Weinberg einen neuen Weinstock.  

Dekan Jürgen Hacker, Bayreuth, Mitglied der Landessynode