Andacht: „Wo ist solch ein Gott?“

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schulden denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade!

aus Micha 7, 18–20

Welch emotionale Frage – wo ist solch ein Gott? – in dieser Zeit des Nichtwissens, was sich da so alles auf diesem Planeten Erde im Jahr 2020 abspielt. War es zu Zeiten des Propheten Micha eine erquickende Frage, die die Antwort schon in sich trug, hören wir diese Frage heute eher ratlos und skeptisch.

Micha zeichnet ein Bild der Gewissheit: es gibt diesen Gott! Einen Gott, der in seinem ganzen Wesen aufbricht, den Tod und die Vernichtung verabscheut und das heilende Leben in Kraft und Fülle in das Zentrum des täglichen Daseins stellt.

Doch, „um Gottes Willen“, wo darf solch ein Gott heute leben, wo darf er sein? Der, der schon damals in Israel ein Schattendasein führte, weil sein Volk Macht und Gerechtigkeit in eigener Beliebigkeit auslebte und nicht in der Gegenwart seines liebenden Gottes. Hat sich seitens der Menschheit denn irgendetwas verändert in diesen 2.700 Jahren?“

Haben die Menschen den inneren Zugang zu Gott gefunden, zu einem nach uns suchenden und lauschenden Gott, der sich verliert in dieser unheilvollen nur auf sich bedachten Menschheit? Immer wieder sucht dieser Gott nach sich selber in dem Ebenbild seines eigenen Seins.

Wie aber kann er finden, wonach er sucht, wenn der Mensch dieser Erde das Atmen seines Geistes in sich nicht wahrnimmt? Wie kann solch ein Gott zum Menschen einkehren, wenn dieser ihn außen vorlässt?

In den vergangenen Wochen scheint sich eine leise Wende unter den Menschen anzubahnen. „Gott kommt auf die Erde“. Menschen berichten von der Erfahrung, endlich mal zu sich selber gekommen zu sein. In der Stille vernehmen sie ihre heimlichen Sehnsüchte und Wünsche und erkennen, dass der Wert des Lebens nicht im Getriebensein zu finden ist, sondern in der Begegnung mit sich selber, dem Mitmenschen, der Natur, den anderen Lebewesen. 

Gott war, er ist und wird uns immer zugewandt sein. Die Schuld des Menschen entfaltet sich an dieser Stelle, wo er abgewandt lebt, sich selber und seinen Mitlebewesen gegenüber. Das treibt ihn in den permanenten Unfrieden, sich selber aus dem Weg gehen zu müssen.

Wo ist also solch ein Gott, der mir zugewandt ist? Er ist in mir und lebt aus mir heraus. Im innersten Kern meines Seins wohnt Gott. Er lebt in meinem Menschsein, welches wiederum bedeutet, Mitmensch zu sein, den Mitmenschen zu lieben. Das ist „verdammt“ schwer und ich erlebe permanent meine menschlichen Grenzen, meine Vorurteile und meine inneren Gegenargumente.

Wie oft spüre ich, dass ich mich auf den anderen nicht einlasse, weil ich nicht zuhöre und die Antworten schon vorher weiß. Doch Gottes Geist wird nicht müde. Immer und immer wieder ruft er meinem Herzen zu, was er damals durch Micha (6, 8) schon sagte: „Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir fordert: Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott.“

Für mich in die heutige Zeit übertragen, könnte dies heißen: Gehe deinen Weg in der Gegenwart Gottes und lebe im Augenblick; habe ein ehrliches und warmes Herz für andere, genauso, wie für dich selbst; nimm dich in allem, was du denkst, sagst oder tust, nicht so wichtig und versuche hin und wieder über dich selber zu schmunzeln. Vielleicht entdecke ich in alldem einen solchen Gott in mir, der Gefallen hat – an der Gnade.

Pfarrer Hanns-Hinrich Sierck, Spirituelles Zentrum St. Martin, München