
Lebenslinien in Gottes Hand: Der 16-jährige Louis Braille entwickelte Schrift zum Fühlen
Louis Braille erblickt am 4. Januar 1809 im französischen Ort Coupvray das Licht der Welt. Dies zunächst drei Jahre lang: Denn dann kam es zu einem Unfall in der Sattlerwerkstatt seines Vaters mit einer scharfen Ahle am Auge: Es entzündete sich, was auch auf das zweite Auge übergriff: Beide erblindeten.
Doch der Junge gab sich nicht mit seinem Schicksal zufrieden: Er wollte lesen lernen wie andere auch – und nicht darauf warten, bis andere Zeit fanden, um ihm vorlesen zu können. Ab seinem zehnten Lebensjahr ging er in die Blindenschule von Valentin Haüy: Dieser begegnete voller Faszination der blinden Komponistin, Pianistin und Musiklehrerin Maria Theresia Paradis. Um selbständig zu schreiben, zu lesen und Noten zu setzen, konnnte sie diese mit einem Setzkastensystem einprägen – und so ertasten.
Valentin Haüy ließ die Präge-Utensilien auch für sich und seine Schule nachbauen. Und noch eine Idee verarbeitete der junge Louis Braille: Ein Hauptmann namens Charles Barbier hatte für militärische Zwecke eine „Nachtschrift“ entwickelt, die ohne Licht ertastbar war. Doch war sein System ziemlich komplex.
Louis Braille bastelte in der Werkstatt seines Vaters aus Lederstücken Formen, die er nach seinen Bedürfnissen hin und her schob. Bereits mit 16 Jahren, 1825, hatte er sein neues System so ausgefeilt, dass sich die Zeichen gut ertasten und einfach erlernen ließen. Es baut seitdem auf einer Kombination von sechs ertastbaren Punkten auf, mit denen sich 64 Kombinationen für Buchstaben und Zahlen erstellen ließen.
Doch seine Idee fand zunächst keine Anerkennung. Inzwischen hatte ein neuer Direktor die Blindenschule übernommen, der sich gegen eine eigene Schrift für Blinde aussprach. Er befürchtete, dass sie sich so von den Sehenden weiter entfernten.
Doch Louis Braille ließ sich nicht ermutigen. Musik begeisterte ihn, so entwickelte er auch für Noten eine Schrift, die gleichermaßen das Sechs-Punkte-System der Zeichen umsetzte. Braille erschloss sich dadurch ganze Orgelpartituren, die er ebenfalls darin übersetzte. Er selbst ließ sich bis 1833 zum Organisten ausbilden – und war in diesem Beruf an einer Pariser Kirche tätig.
Trotzdem feilte er weiter an seinem Schriftsystem und nutzte jede Gelegenheit, um es bekannt zu machen: 1836 wollte er öffentlich beweisen, dass er so schnell schreiben und lesen konnte wie ein Sehender. Doch dies glaubten ihm seine Zuhörer nicht und argwöhnten, dass er seine Texte auswendig gelernt habe.
1839 stellte Braille ein weiteres Schriftsystem vor, mit dem auch die Formen der üblichen Buchstaben ertastbar waren. So konnten blinde Menschen mit Sehenden Nachrichten austauschen, ohne sich durch ein eigenes System zu isolieren.
Erst ab 1850 wurde die Brailleschrift an französischen Blindenschulen gelehrt. Ihr Schöpfer starb bereits 1852 an Tuberkulose. Hundert Jahre nach seinem Tod wurde Brailles Körper als besondere Ehre in das Pariser Panthéon überführt.
Entwicklung hilft weiter
Und ab 1879 wurde die Brailleschrift offiziell in Deutschland eingeführt. 1894 entstand die Deutsche Zentralbücherei für Blinde (DZB) in Leipzig, die Bücher in dieser fühlbaren Schrift herausgab, sammelte und weitere Maschinen entwickelte, die die Punktschrift schnell umsetzen konnten wie die Pichtmaschine (oben). „Bis heute ist diese taktile Schrift eine unverzichtbare Brücke zu Bildung, Kultur und Kommunikation für Millionen blinder Menschen weltweit“, so der Bayerische Blinden- und Sehbehindertenbund e.V. BBSB zum Jubiläum der Brailleschrift.
Sie hilft zur schnellen Orientierung in öffentlichen Einrichtungen. Somit ermöglicht die Brailleschrift blinden Menschen einen entscheidenden Schritt in Richtung Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Auch Menschen, die ihr Sehvermögen erst im späteren Lebensverlauf verlieren, können die Schrift erlernen und so wieder aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben.
Da bietet der BBSB regelmäßig Kurse gerade für Späterblindete an, wenn sie durch den Verlust ihrer Sehkraft nicht mehr auf gedruckte Texte zugreifen können. „Die Brailleschrift eröffnet ihnen neue Möglichkeiten, selbstständig zu lesen, zu schreiben und sich im Alltag zu orientieren“, betont BBSB-Landesvorsitzende Judith Faltl.
Die Förderung der Brailleschrift steht seit vielen Jahren im Mittelpunkt der Arbeit des BBSB. „Neben Braillekursen produzieren wir Literatur in Blindenschrift, geben Informationen in Brailleschrift heraus und setzen uns für die Einbindung der Schrift in Beschilderungssysteme und Orientierungshilfen ein. Darüber hinaus engagieren wir uns national und international, um die verschiedenen Brailleschriftsysteme weiterzuentwickeln“, erklärt Faltl. Heutige Computer können automatisiert Sprache in Schrift oder umgekehrt umsetzen, was die Kommunikationsformen für sehbehinderte Menschen deutlich bereichert.
Auch das Zentrum Bayern Familie und Soziales (ZBFS) hat anlässlich des Jubiläums auf die außergewöhnliche Lebenssituation sehbehinderter Menschen hingewiesen. Sie hat 2024 über 93 Millionen Euro Blindengeld an gut 14.600 Berechtigte ausgezahlt. Blinde oder hochgradig Sehbehinderte erhalten so 748 Euro monatlich zum Nachteilsausgleich für den Mehraufwand im Alltag unabhängig vom Einkommen.
Barrierefreiheit stärken
Viele öffentliche Einrichtungen und besonders auch Seniorenheime arbeiten daran, für die besonderen Bedürfnisse Sehbeeinträchtigter Menschen Barrieren abzubauen. Ein Präventionsteam des Blindeninstituts Würzburg hat etwa das Haus Saalepark Schwarzenbach in einer Begehung vor Ort mit Simulationsbrillen unter die Lupe genommen: Diese verzerren das Sehvermögen. So lässt sich die Beeinträchtigung durch übliche Augenerkrankungen erfahrbar machen – und Schwachstellen bei der Orientierung für sehbehinderte Menschen sind nachvollziehbar und können abgebaut werden.
Damit der Alltag von Menschen mit Sehbeeinträchtigung besser nachempfunden werden kann, gibt es online Informationen und Simulationsvideos auch für Angehörige sowie alle Interessierten. Daneben sollten gerade Menschen im fortgeschrittenen Alter regelmäßig ihre Sehfähigkeit überprüfen lassen, um etwa weiter am Straßenverkehr teilnehmen zu können. Auch Augenerkrankungen lassen sich umso früher aufhalten oder gar heilen, je schneller sie erkannt werden. So muss dies nicht mehr wie bei Louis Braille vor gut 200 Jahren zur Erblindung führen.
Mehr online unter
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