Geglückte Flucht

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht zum 1. Sonntag nach Weihnachten – 29. Dezember

Als sie aber hinweggezogen waren, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Josef im Traum und sprach: „Steh auf, nimm das Kindlein und seine Mutter mit dir und flieh nach Ägypten und bleib dort, bis ich dir’s sage; denn Herodes hat vor, das Kindlein zu suchen, um es umzubringen. Da stand er auf und nahm das Kindlein und seine Mutter mit sich bei Nacht und entwich nach Ägypten nd blieb dort bis nach dem Tod des Herodes, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“ Als Herodes nun sah, dass er von den Weisen betrogen war, wurde er sehr zornig und schickte aus und ließ alle Knaben in Bethlehem töten und in der ganzen Gegend, die zweijährig und darunter waren, nach der Zeit, die er von den Weisen genau erkundet hatte. Da wurde erfüllt, was gesagt ist durch den Propheten Jeremia, der da spricht: „In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.“

Matthäus 2,13–18

Das Bild werde ich nie vergessen. Am Strand von Kos, einer kleinen griechischen Insel in Sichtweite des türkischen Festlands liegen überall Reste von Schlauchbooten, Rettungswesten, Kindersachen. Und daneben die Hotels und die Liegestühle der Urlauber. Mit einer kleinen Delegation des Präsidiums der EKD Synode war ich im Sommer an der EU-Außengrenze, um mir ein Bild von der Lage der Flüchtlinge dort zu machen.

In der Mitte der Insel befindet sich das Lager – dort, wo die Touristen nicht hinkommen. Container, mehrere Zäune hintereinander, mit Stacheldraht in der Gluthitze, ein in Beton gegossenes Monument der Abschreckung. Teilweise ist es auch schon ein Gefängnis für jene, deren Anträge abgelehnt worden waren. Für viele ist es ein Ort des langen Wartens. Vor dem Lager trafen wir Rafah, eine Frau aus Syrien. Ihre beiden Kinder hatten die Dokumente schon, nur sie noch nicht. Jeden Tag ging sie zum Lager und fragte nach. Sie hatten nichts, nur eine Decke des Flüchtlingswerkes der Vereinten Nationen UNHCR.

Als Josef vor 2.000 Jahren das Kind Jesus und seine Mutter Maria mit auf die Flucht nach Ägypten genommen hatte, da gab es noch keine solche Flüchtlingslager. Die Not allerdings, die die Menschen damals wie heute zur Flucht drängt, war ähnlich. 

Josef wusste, dass seine Familie und insbesondere das Kind in Lebensgefahr waren: Ein machtsüchtiger Herrscher wollte eine potenzielle Gefahr für seine Macht, notfalls mit Kindermord, ausschalten. Damals wie heute gibt es trotz Fluchtmöglichkeiten viele Opfer. Auch wenn Josef seine Familie durch die Flucht nach Ägypten retten konnte, wurde über die Familien mit kleinen Jungen in Bethlehem unendliches Leid gebracht. 

Die Menschen, die wir bei unserer Reise an die EU-Außengrenze getroffen haben, sind so von ihrer Not getrieben, dass Abschreckung nicht funktioniert. Diejenigen, die sich jetzt auf den Weg machen, wissen ganz genau, dass das eine Reise ist, die mehrere Jahre dauert. Und sie wissen auch um die Gefahren. Aber die Angst um das Leben ihrer Familien und die Zukunft ihrer Kinder treibt sie an. 

Was wäre unsere Welt heute, wenn Josef und Maria ihre Flucht nach Ägypten nicht geglückt wäre? Was wären wir heute, hätte es damals nicht Menschen gegeben, die der kleinen Familie einen Unterschlupf geboten hätten? Erst Jahre später, als König Herodes gestorben war, konnten Maria und Josef mit ihrem kleinen Sohn Jesus sicher in ihre Heimat zurückkehren. Wie würde unsere Welt heute aussehen, ohne den einen, der das Heil in diese Welt brachte? Ohne den einen, der uns sagt: „Selig sind, die Frieden stiften!“; ohne den einen, der uns sagt: „Was ihr den geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ und „Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt.“.

Dr. Gabriele Hoerschelmann, Direktorin von Mission EineWelt