Die Macht der Barmherzigkeit

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Weihnachtsandacht vom bayerischen Landesbischof Christian Kopp

Und Maria sprach: Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.

aus Lk 1,46–56

Ich lobe Gott aus tiefstem Herzen. Alles in mir ist voller Freude.“ So beginnt Maria ihr großes Lied. Es ist ein Lied voller Jubel und Zuversicht. Wer singt, tut das meistens aus Gründen. Maria hat viele davon. Sie hat etwas erfahren, was ihr Leben verändert: das große Geheimnis, das wir Gott nennen. In der Bibel heißt es: Ein Engel kam zu ihr. Und nun ist sie schwanger. 

Manche Menschen können auf den Tag genau sagen, wann sie Gottes Nähe gespürt haben. Für andere ist es ein schrittweiser Prozess. Das Gefühl, dass Gott da ist, kann vieles auslösen: eine Hand, die segnend auf deinem Kopf ruht. Im Sternenhimmel ein besonders leuchtender Stern, der plötzlich dein Inneres erfüllt. Für mich sind es die beiden Geburten unserer Kinder. Jedes Mal, wenn ich daran denke, fühle ich Glück und Dankbarkeit. Mein Leben war von einem Tag auf den anderen nicht mehr dasselbe. Es war einfach schön. 

Maria singt von solch einem Moment. Sie fühlt es in ihrem Körper. Etwas Großes wächst in ihr heran. „Gott hat mich gesehen“, sagt sie. Gott hat ihre Niedrigkeit gesehen, ihre Armut als Frau. Sie deutet es so: Gott kehrt die Verhältnisse um. Gott macht das Kleine groß und das Große klein. Marias Lied ist eine Hoffnungsbotschaft für dieses Weihnachtsfest wie für jedes seit der Geburt von Jesus Christus. Alle Menschen kennen schwere Tage, an denen das Leben grau ist. Man muss nur die Nachrichten anmachen. Die weltweiten Probleme haben eine Wucht, die Menschen ratlos macht. 

Marias Lied sagt: „Das muss nicht so bleiben.“ Das Leben kann sich ändern. Die Welt kann sich für mich verändern. Gott sieht dich. Du bist nicht allein. Vertraue auf andere, lass dir helfen – und vertraue auf Gott. Du bist gesehen, du bist geachtet. Dieses Ansehen, diesen Respekt bei Gott, kann dir niemand nehmen. 

Maria ermutigt uns, aufzustehen, wie sie aufgestanden ist: für Respekt, Gerechtigkeit und Veränderung. Das ist eine Botschaft, die Menschen Mut macht. Wir können Wandel anstoßen, Impulse geben und konkrete Schritte gehen, damit es gerechter zugeht auf dieser Welt. 

Maria ist für viele ein Vorbild – für mich auch. Sie vertraut auf Gott und nimmt eine empfangende Haltung ein. Doch Maria ist noch mehr. Sie handelt. Maria macht. Sie nimmt sich den Platz, den sie und ihr Kind brauchen. Sie ist da – am Anfang in Bethlehem, in der Mitte ihres Lebens und am Ende, unter dem Kreuz. Für eine Frau ihrer Zeit ist das außergewöhnlich. 

Maria erinnert uns daran, dass Gott an unserer Seite steht – besonders dann, wenn wir uns ohnmächtig fühlen. Sie lädt uns ein, dieser anderen Macht zu vertrauen. Eine Macht, die aufrichtet, nicht niederdrückt. Eine Macht, die das Leben verwandelt. Eine Macht, die wir an Weihnachten feiern. 

Maria singt davon. Und ich glaube: Wenn wir uns von diesem Lied berühren lassen, dann können auch wir aufstehen und die Welt an unseren Orten gerechter machen. 

Christian Kopp, Landesbischof