Editorial im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von Raimund Kirch
Das jüngste Buch „Verlust“ des Soziologen Andreas Reckwitz ist sicher einer der wichtigsten Beiträge dieses Herbstes zur derzeitigen Situation und Befindlichkeit unserer westlichen Gesellschaften. Die Botschaft darin lautet, dass wir – zum Teil schmerzhaft – einsehen müssen, dass wirtschaftliches Wachstum endlich ist und das, was wir Fortschritt nennen, neu gedacht und interpretiert werden muss.
Reckwitz, das hat Susanne Borée in der vorletzten Nummer des Sonntagsblattes exemplarisch herausgearbeitet, geht davon aus, dass diese westlichen Gesellschaften angesichts von Corona, sichtlicher Folgen des Klimawandels und der Rückkehr zu Kriegshandlungen, die man schlichtweg als barbarisch bezeichnen muss, eine Phase der Ernüchterung erleben, die mit einem neuen Unbehagen einhergeht.
Dass es der nächsten Generation höchstwahrscheinlich nicht mehr so gut geht, wie den „Boomern“; dass sich heutige Jugendliche auf härtere Konkurrenz und geringere Chancen, auf mehr Naturkatastrophen und politische Verwerfungen einstellen müssen als ihre Eltern, ist leider nicht von der Hand zu weisen. Wie anhand der grassierenden Verlustängste beeinflusst und manipuliert werden kann, zeigen die Erfolge populistischer Parteien und rechtsextremer Vordenker, die trotz oder wegen ihrer schlimmen Vereinfachungen, Polarisationen, Hasstiraden und Schwarz-Weiß-Denken ungeahnten Zulauf haben. Dabei nutzen sie die Möglichkeiten der so genannten sozialen Medien wesentlich geschickter und kreativer als die Altparteien und sogar die Grünen.
An diesem Punkt wären eigentlich Kirchen gefragt, ihre Kompetenz auszuspielen, zumal das Christentum mit Leid, Askese und Verlustängsten seine ganz elementaren Erfahrungen gesammelt hat. Schon in der biblischen Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies wird deutlich herausgestellt, dass man sich seinen Verlusterfahrungen stellen muss und ein Neuansatz möglich ist, mit all den Möglichkeiten zu scheitern, aber auch, an und mit den Schwierigkeiten zu wachsen – ohne ideologischen Rattenfängern auf den Leim zu gehen.
Da lautet die Jahreslosung für 2025: „Prüft alles, das Gute aber behaltet.“ Kann sein, dass Paulus so der Gemeinde von Thessaloniki gerade in einer Zeit des Wandels und diffuser Verlustängste Zuversicht vermitteln wollte.