Diskussion eines lange verdrängten Gefühles, das Wiederauferstehung feiert
Alles wird besser! Habt nur noch ein klein wenig Geduld! In ein paar Jahren oder allerspätestens in der übernächsten Generation beginnt das Paradies auf Erden für alle! Jeder konnte gewinnen – was fiel da noch ins Gewicht, was verloren ging?
Mit diesem Versprechen trat die Moderne an, so Andreas Reckwitz. Doch sie verdrängte den „Verlust“, so der Untertitel seines aktuellen Buches. Nun feiert er Auferstehung und hat sich in „Ein Grundproblem der Moderne“ verwandelt, so der Untertitel dieses Buches.
Nach der Aufklärung sollte sich das Licht vernünftigen Denkens unaufhörlich ausbreiten. Die Industrialisierung bot immer mehr Infrastruktur und Güter an, die das Leben einfacher machten. Bald konnten sich immer breitere Bevölkerungsschichten ein besseres Leben leisten: Zentralheizung, Elektrizität und Warmwasser für jede Wohnung – das wurde zunehmend selbstverständlich. Ebenso wie immer bessere Wohnverhältnisse, von all den Helfern im Haushalt ganz zu schweigen. Die Medizin schwang sich alle paar Jahre zu bislang ungeahnten Höhen auf. Es gab Sicherheit im Alter.
Bei diesen rasanten Entwicklungen ging sogar schneller mehr verloren als in traditionellen Gesellschaften: Es verschwanden gewohnte Lebensverhältnisse oder vertraute Werkzeuge. Und natürlich starben auch beim besten medizinischen Fortschritt Menschen.
Dabei ist ein „Verlust“ für Reckwitz mehr als ein Verschwinden des Alten: Durch die Wortwahl wird es als unumkehrbar und als negativ erfahren. Doch der Fortschrittsglaube verdrängte Verlusterfahrungen, fährt er fort. Wer etwa zu viel verloren hatte und nicht mehr nach vorne schaute, war persönlich gescheitert und verbarg dies. Zu intensive Trauer galt als Schwäche. Ein wenig Nostalgie war ganz gemütlich, bald bedienten eigene Konsumgüter das Gefühl – aber es durfte nicht den Glauben ans irdische Paradies in Frage stellen.
Die christliche Heilsgeschichte wurde auf innerweltliche Vorgänge übertragen. Sogar noch nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieg, der vielen Menschen unaussprechliche Verluste beschert hatte, schien es fast 30 Jahre lang nur Entwicklungen zu immer größerem Wohlstand zu geben. Schon bald überwog die Erfahrung, durch das Wirtschaftswunder an einem stabilen Fortschritt teilzuhaben, der besser war als alles zuvor. Und der Sozialismus baute sowieso an seinem Paradies.
Doch inzwischen sind die „Grenzen des Wachstums“, die vor einem halben Jahrhundert der „Club of Rome“ als Neuigkeit beschrieb, mehr als deutlich. Während sich global gesehen in Schwellenländern noch weiterer Wohlstand ausbreitet, finden sich in immer mehr Regionen des alten Abendlandes und Amerikas „Modernisierungsverlierer“. Mehr noch, Verlusterfahrungen und -ängste bestimmen zunehmend das spätmoderne Leben.
Verluste sind aber keineswegs gleichmäßig verteilt, was das Gefühl der Ungerechtigkeit noch verstärkt. Gerade dort, wo zu lange auf alte Technologien gesetzt wurde, treten sie besonders zutage. Digitale Entwicklungen beschleunigen erneut Verluste – aber bringen sie wirklich bessere Lebensverhältnisse?
Die Überalterung der Gesellschaft führt weiter dazu, dass immer mehr Ressourcen für Pflegebedürftige aufgewendet werden. Der Klimawandel führt zu Verlusten derjenigen, die von Überschwemmungen, Starkregen oder Bränden betroffen sind. Doch auch, wenn man etwas dagegen unternimmt, Häuser dämmt und auf Strom und Wärme jenseits fossiler Erzeugung setzt, braucht es Investitionen – also Verluste an Geld.
Auch Ängste vor zukünftig erwarteten Verlusten wirken ähnlich. Die Inflation führt etwa zu weniger Kaufkraft – für Ärmere am deutlichsten spürbar. Letztlich toben Verteilungskämpfe, wer für den Umbau oder für das „Weiterso“ am stärksten zur Kasse gebeten wird. Die ressourcenstärksten Menschen sicher nicht – sie können sich entsprechend wehren.
Abwehr und Beschwichtigung, aber auch Empörung und Wut über ungerechte Verteilung der Verluste oder Ängste vor zukünftigen Verlusten behindern eher, als dass sie weiterhelfen. Gerade populistische Parteien, der Soziologe Reckwitz nennt sie „Verlustunternehmer“, erlangen dadurch hohe Wahlergebnisse. Schuldige werden ausgemacht, die von Verlusten anderer profitieren.
Und die weitere Entwicklung: Ist die aktuelle Verlusterfahrung nur begrenzt und kann durch weiteren Fortschritt aufgefangen werden? Es kann natürlich sein, dass dieser etwa nach Ostasien weiterwandert, während das Abendland zurückfällt. Oder ist der Glauben an den Fortschritt selbst endlich: Wird diese Entwicklung durch plötzliche oder schleichende Katastrophen grundsätzlich zusammenbrechen?
Solche Szenarien der weiteren Entwicklung diskutiert Reckwitz zum Schluss: Oder lässt sich „die Moderne reparieren“? Das erhofft er als eine „Haltung“, in der sich die „gegebenen Institutionen und Lebensformen … nüchtern und offensiv der Problematik von Verletzlichkeit und Verlust stellen“. Diese würde den Fortschritt nicht mehr in der Zukunft versprechen, „sondern ein klares Bewusstsein für die … längst erreichten Fortschritte entwickeln“ um „das erreichte Niveau einigermaßen zu halten“. Anstelle von „Verteilungskämpfen“ könnte ein Ausgleich zwischen „Gewinnern“ und „Verlierern“ stattfinden.
Hilft da noch der Glaube?
Sicher kann diese Zusammenfassung nur einige Entwicklungstendenzen darstellen – Reckwitz geht oft tiefer. Welcher Rolle kommt etwa der christlichen Weltdeutung zu? Hat sie sich durch die innerweltliche Umdeutung der Fortschrittsgeschichte nur schwächlich an den Rand drängen lassen?
Ist Religion nur noch „ein Gegenstand der persönlichen Wahl durch das Individuum“, um mit dem Verweis auf eine transzendente Dimension Entwicklungen sinnvoll zu machen und so nicht an der Sinnlosigkeit von Verlusten zu zerbrechen?
Vielleicht hat sie uns auch mehr zu sagen, so Reckwitz: Das Christentum basiert auf der Verlusterfahrung des Sündenfalls und der Vertreibung aus dem Paradies. Und auf der Hoffnung, dass durch den Anbruch des Reiches Gottes Erlösung möglich ist.
Er analysiert etwa den Verzicht als freiwillige Selbstbeschränkung aus der Tradition der Askese. Gleichzeitig benötigen Menschen immer wieder göttliche Vergebung für eigenes Versagen – und sollten auch anderen so begegnen.
„Allerdings wird das christliche Weltvertrauen durch reale Leiderfahrungen immer wieder auf die Probe gestellt.“ Doch weder der Vertreibung aus dem Paradies gehört das letzte Wort noch Jesu Kreuzestod, sondern der Auferstehung.
Stefan Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne. 2024, 464 Seiten, ISBN 978-3-518-58822-2; 32,90 Euro.