Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern vom Münchner Regionalbischof Thomas Prieto Peral
Im Alpinen Museum in München gibt es eine ganze Ecke über den „Flow“. Mehrere Berg-
sportler berichten da mit leuchtenden Augen von dem, was sich beim Wandern, Klettern oder Mountainbiken in ihnen einstellt: Sie versenken sich ganz im Moment. Es gibt nur noch die Zeit von einem Schritt zum nächsten und nur den Raum zwischen zwei Handgriffen. Erst am Ziel, wo es sicheren Stand gibt, lässt sich der Fluss der Zeit und die Weite des Raums wieder wahrnehmen, gefahrlos. Bei meiner letzten Bergtour auf dem Jochberg waren die Farben schon wunderbar herbstlich. Dann war ich einen Moment unkonzentriert und bin auf einem glitschigen Felsen ausgerutscht. Ich hatte einen Rippenbruch und zunächst große Schmerzen.
Psalm 90 spricht genau diese Spannung an, die ich zwischen „Flow“ und Erschütterung, zwischen meiner menschlichen Zeit und Gottes Ewigkeit erlebe.
„Herr, du bist unsere Zuflucht für und für.“
Mächtig und bergend und zu groß für mich. Wie die Berge, die Gott zur Welt gebracht hat. Wie der ewige Zyklus von Werden und Vergehen. Während mein Leben kurz und vergänglich ist wie das Gras. Die Poesie in diesem Psalm spricht mich an und zugleich sticht sie mir zwischen die Rippen. Ich muss erfahren, wie begrenzt und brüchig mein Leben ist, und lernen, mit der Unsicherheit umzugehen, die jede Sicherheit infrage stellen kann. Ein Ausrutscher, ein unachtsamer Moment, und plötzlich spüre ich diese Grenzen schmerzlich, gar quälend.
An diesem Sonntag im Kirchenjahr erinnern sich viele an ihre Zeit der Trauer, die sich oft genauso anfühlt, wie bei denen, die diesen Psalm zuerst gebetet haben. Es ist die Erinnerung an eine andere Art von „Flow“, in der die Tage und Jahre zerrinnen und wegfließen. In diesen Momenten spüre ich, wie wenig ich wirklich kontrollieren kann, vielleicht immer nur den nächsten Schritt. Und doch kann sich auch das bergen in die große Ewigkeit Gottes. Seit Jahrhunderten beten Menschen diesen Psalm, wenn sie trauern und finden Zuflucht in dem Glauben, den er beschreibt.
Im Psalm 90 finde ich diese Perspektive: Die Schwere ist dort umschlossen in der Beständigkeit und Ewigkeit Gottes. Durch diese ewige Konstante lassen sich das Leichte und das Schwere wieder in ein Verhältnis bringen. Der höhere Sinn gibt Halt.
In diese Ewigkeit fließen auch meine Gefühle von Ohnmacht und Enge, die sich beim Blick in die Zeitung einstellen. Alle Macht und alle Amtszeiten sind endlich. Autokratische Fantasien mögen groß und drückend erscheinen, doch auch sie stehen unter einer Instanz, die größer ist. Dieses „memento mori“, das Gedenken an den Tod, müssen alle bedenken, auf dass sie klug werden. Ich erkenne, dass ich Teil eines größeren, beständigen Ganzen bin, das sich meiner Kontrolle entzieht und doch einen Raum bietet, in dem ich Zuflucht finde.
In meinen Flow- und Sturz-Erfahrungen bedenke ich, dass meine Zeit zerbrechlich ist. „Herr, du bist unsere Zuflucht für und für.“ Und später: „Sättige uns früh mit deiner Gnade.“ So umschließt die Güte Gottes die ersten und die letzten Verse des Psalms wie das Alpha und das Omega. Da wo ich meine Begrenztheit spüre, öffnet sich der Raum für das Vertrauen, dass Gottes Ewigkeit beständig bleibt und alles umfasst, auch wenn ich strauchle. Er trägt mich über das hinaus, was ich begreifen oder kontrollieren kann und bringt mich wieder in den Flow, in den Fluss des Lebens.
Thomas Prieto Peral, Regionalbischof für München