Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern als Aufruf zu mehr Toleranz
Den Schwachen im Glauben nehmt an und streitet nicht über Meinungen. Der eine glaubt, er dürfe alles essen. Der Schwache aber isst kein Fleisch. Wer isst, der verachte den nicht, der nicht isst; und wer nicht isst, der richte den nicht, der isst; denn Gott hat ihn angenommen. Wer bist du, dass du einen fremden Knecht richtest? Er steht oder fällt seinem Herrn. Er wird aber stehen bleiben; denn der Herr kann ihn aufrecht halten. Ein jeder sei seiner Meinung gewiss. Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber. Darum: wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. Denn dazu ist Christus gestorben und wieder lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei.
aus Römer 14,1–9
Das Christentum sei intolerant und die Kirchen hätten dem Abendland nur Zwänge gebracht, heißt es oft. Nun, dann sollte jetzt, nachdem Christentum und Kirchen ihren Mehrheitsstatus verloren haben, alles besser sein. Doch Internet und soziale Medien haben zahllose neue Pranger hervorgebracht. Gefühlt wird täglich neu festgelegt, was sagbar ist und was nicht. „Political Correctness“ ist das neue Gesetz, das niemand erfüllen kann und jeden verurteilt. Ihre „Ritter:/*_Innen“ kämpfen mit harten Bandagen und die Gesellschaft hat ein Toleranzproblem auch ohne Kirchen.
Bei Paulus würde nun kaum jemand einen Rat zu tolerantem Miteinander erwarten. Doch der Apostel überrascht. Die römische Gemeinde, an die er schreibt, hat sich über der Frage Fleisch essen oder nicht zerstritten. Auch beim Halten von Feiertagen ist man uneins. Es geht also um den christlichen Lebensstil. So wie wir etwa fragen, ob Glauben und Autofahren zusammenpassen. Gestritten wird, weil hinter dem Lebensstil ein weit höheres Ziel steht. Die römischen Christen wollen gottgefällig sein – wir wollen das Klima retten. Beide Male geht es um Leben und Tod und deshalb um eine letzte Wahrheit, oder?
Paulus spricht von Meinungen und bricht damit dem Zwist die Spitze ab. Eine Meinung ist nur eine persönliche Ansicht und keine letzte Wahrheit. Paulus holt den Streit auf den Boden zurück. Und plötzlich finden sich alle auf gleicher Höhe wieder, weil jeder mit seiner Meinung vor Gott bestehen muss. Er ist der Richter und niemand kennt sein Urteil. Solange also niemand für sich selbst lebt oder stirbt, sondern mit seinem Lebensstil Gott Ehre machen will, soll das jeder tolerieren und keinen Streit anzetteln.
Paulus‘ Gedanken zu mehr Frieden und Toleranz sind eine enorme Herausforderung. Von wem oder wofür lässt sich der emanzipierte Mensch das Richtschwert aus der Hand nehmen? Und auch in der Kirche unterscheiden wir nicht immer glücklich zwischen Wahrheit und Meinung. Doch keine Meinung zur Wahrheit stilisieren und Gott richten lassen sind wichtige Friedensschritte.
Jutta Holzheuer, Dekanin in Rothenburg ob der Tauber
Gebet: Guter Gott, lehre mich, dass ich nicht das Maß der Dinge bin. Schenke mir Achtung vor meinen Nächsten und ihren Wegen dich zu ehren. Und lass sie mich meinen Weg gehen. Das bitte ich im Namen Jesu. Amen.
Lied EG 649: Herr, gib du uns Augen