„Die jüdische Wunde“

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Buchcover und Autorenfoto.
Buchcover und Autorenfoto.

Annäherungen an ein vielschichtiges und herausforderndes Werk zur aktuellen Debatte

Zwei betagte Herren befinden sich im angeregten Gespräch miteinander. Die Welt um sich herum scheinen sie völlig vergessen zu haben. Es könnte eine Alltagsszene sein – wenn diese beiden Männer nicht unschwer an ihrer Kleidung als orthodoxe Juden zu erkennen wären. Und mindestens die Kleidung des sitzenden Mannes deutlich abgewetzt zu sein scheint.

Unter diesem Titelbild brachte der „Spiegel Geschichte 4/2019“ sein Heft „Jüdisches Leben in Deutschland“ heraus. Und Natan Sznaider beginnt sein aktuelles Buch „Die jüdische Wunde“ (26 Euro, ISBN 978-3-44628131-8) mit einer intensiven Besprechung dieses Bildes. Denn diese Szene mag „in Deutschland“ stattgefunden haben, doch ist sie wirklich repräsentativ für „Jüdisches Leben“ hierzulande – und für „Die unbekannte Welt nebenan“ (so der Untertitel des Spiegel-Heftes)?

Sie zeigt wohl orthodoxe Juden aus Osteuropa, die vor gut hundert Jahren aufgrund von Hunger und Gewalt in ihrer Heimat nach dem Ersten Weltkrieg und der Russischen Revolution Schutz suchten. Das Foto mag aus dem Berliner „Scheunenviertel“ oder einem ähnlichen Quartier stammen. Die Geflüchteten waren erkennbar „anders“ – auch für die damaligen weitgehend assimilierten deutschen Juden. Ihre Kleidung zeigte ihr Elend. Sie sprachen kaum Deutsch, meist nur Jiddisch.

Nun bietet das Spiegel-Geschichtsheft, das für Abonnenten noch online abrufbar ist, gerade „Hintergrundwissen und Argumente“ gegen Vorurteile. Das Titelbild ist wohl Teil davon. Es zeigt sicher bewusst weder die großartige Berliner Synagoge in der Oranienburger Straße noch Schreckensbilder aus der Zeit des Holocaust. Und gerade damit trifft es in hervorragender Weise inmitten des Problems: Wie lässt sich „Jüdisches Leben in Deutschland“ bildlich illustrieren? – zumal doch die Juden durch Assimilation „unsichtbar“ wurden? „Warum sind sichtbar erkennbare Juden Klischeevorstellungen?“, fragt Sznaider sich und uns.

Gleichzeitig erhoben damals rassistische Theorien den Anspruch, Juden eindeutig erkennbar einzustufen. Als jüdischer Mensch „kann man sich nur assimilieren, wenn man sich an den Antisemitismus assimiliert.“ So kommentierte dies die Philosophin Hannah Ahrendt. Sie brach als junge Frau in die universalistische Welt des Denkens auf – und kehrte wieder zum Judentum zurück. 

Unmöglicher Spagat

An vielen Uneindeutigkeiten arbeitet sich das Buch „Die jüdische Wunde“ ab. Es ist gewiss kein einfaches Werk: Ganz im Gegenteil, es verwebt äußerst dicht verschiedene historische Epoche und Gedankenwelten. So schmal das Bändchen mit gut 200 Seiten Text ist, wird es dennoch an vielen Stellen zu einem intellektuell überaus anspruchsvollen Ritt durch die abendländische Geistes- und Kunstgeschichte. Das Bild der „Wunde“ nimmt etwa Überlegungen Adornos auf. So kann auch diese Vorstellung leider nur ein Fragment bleiben. 

Natan Sznaider erblickte 1954 in Mannheim als Sohn von Polnischstämmigen staatenlosen Überlebenden der Shoah das Licht der Welt. Als Soziologe begann er 1977 in Tel Aviv zu lehren, nahm aber auch häufiger Gastdozenturen in den USA und in Deutschland an. In seinem aktuellen Werk hat er fortwährend mehrere Zeitebene gleichzeitig im Blick – und springt zwischen ihnen hin und her. Es wurde vor dem 7. Oktober begonnen und danach – oder „während“ des Ereignisses, „weil wir nach dem 7. Oktober immer wieder am Morgen des 7. Oktober 2023 aufwachen“ – fortgeführt. 

„Juden und Jüdinnen sind fremd in der Welt, weil die Entfernung des Menschen zu Gott keine Heimat zulassen kann.“ Ein solcher Satz theologischer Tiefe findet sich bei Sznaider genauso wie ein aufschlussreiches Gespräch zwischen Hannah Arendt und Golda Meir, zuletzt Ministerpräsidentin Israels: Die Politikerin meinte: „Sie werden ja verstehen, dass ich als Sozialistin nicht an Gott glaube, ich glaube an das israelische Volk.“ Arendt kommentiert: „Ich bin der Meinung, dass das ein furchtbarer Satz ist, und ich habe ihr nicht geantwortet, weil ich zu erschrocken war. Das Großartige dieses Volkes ist es einmal gewesen, an Gott zu glauben. … Was soll daraus werden?“

Neben zionistischen und aufgeklärten Juden gibt es natürlich die „Parallelgesellschaft“ der Orthodoxen gerade in Israel. Da nun Juden anders sind, manche von ihnen dies auch sein wollen, dass sie zwischen universalen Werten und ihrer einzigartigen Religion changieren – diese Tatsache nimmt die Mehrheitsgesellschaft zu großen Teilen nicht hin. 

Zentral ist für Sznaider die Herausforderung an die Moderne „Ambiguitäten“ (Mehrdeutigkeiten) auszuhalten, wie es Else Frenkel-Brunswik federführend ausgearbeitet hat. Die Toleranz dafür sei zu gering: Eindeutige Verhältnisse sind gefragt – je autoritärer Menschen geprägt sind, umso eindeutiger der Anspruch. 

Unter dieser Voraussetzung sieht Sznaider auch die Dispute um die „documenta 15“ im Sommer 2022: Kunst wollte eindeutig Stellung beziehen gegen „Antikolonialismus“. Doch Israel ist keine klassische Kolonialmacht, sondern entstand aus dem Holocaust. Das Fazit: „Juden und Deutsche waren im Sommer 2022 wie schon lange nicht mehr in einem Kampf um die je eigene Vergangenheit verstrickt. Der politische Universalismus will den Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden unter dem Banner der weltweiten Gleichheit auflösen. Genau das Gegenteil ist eingetroffen.“

Schlag auf offene Wunden

Am 7. Oktober („als die israelische Geschichte auf die jüdische traf“) wurde Israel genau in seine „Jüdische Wunde“ getroffen. Seine ganze Hilflosigkeit trotz aller Hochrüstung wurde offenbar – zumal sich der Staat da seit Monaten in intensiven Disputen darüber befand, welche Formen seine Gestalt am Beispiel der unabhängigen Rechtssprechung finden könnte. In der „Protestwelle“ ging es „um den modernen, westlichen Charakter des Landes“. 

Israel schlug (und schlägt) rasend zurück: Schon der Dichter Heinrich Heine fasste vor knapp 200 Jahren eine solche Reaktion in seinem abgründigen Gedicht „An Edom!“ (also die heidnischen Nachbarn Israels) prägnant zusammen. Entlarvend harmlos das Ende des Dreistrophers: „Jetzt wird unsre Freundschaft fester, / Und noch täglich nimmt sie zu; / Denn ich selbst begann zu rasen, / Und ich werde fast wie Du.“

Zudem, so betont Sznaider, handelt Israel immer als Verwundeter: „Eine ambiguitätstolerante Erzählung der jüdischen Wunde ist sich der Zukunft der traumatischen und tragischen Vergangenheiten bewusst und auch, dass sich diese … weder ändern noch versöhnen lassen.“ Trotz aller seiner herausfordernden Gedanken bleibt das letzte Wort seines Buches „Gebet“. Vielleicht das einzige, das wir nichtjüdischen Menschen gerade für das Land tun können – anstatt uns in rechthaberischen Gedanken zu verlieren.