Facettenreiches Estland erfahren, III

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Von links: Aufbruch am klassizistischen Rathaus in Tartu mit dem reisefertigen Fahrrad. Da soll ich rüber – zusammen mit dem Fahrrad? Es ging aber besser als gedacht, um nach Mustvee zu gelangen. An den fast menschenleeren Stränden des Peipussee und der Ostsee – trotz idealen Spätsommerwetters. Fotos: Borée
Von links: Aufbruch am klassizistischen Rathaus in Tartu mit dem reisefertigen Fahrrad. Da soll ich rüber – zusammen mit dem Fahrrad? Es ging aber besser als gedacht, um nach Mustvee zu gelangen. An den fast menschenleeren Stränden des Peipussee und der Ostsee – trotz idealen Spätsommerwetters. Fotos: Borée

Meine Runde vollendet

Dann aber ging es für mich weiter: Weiter gen Osten zum Peipus-See und dann nach Norden zur Ostsee – rund 170 Kilometer. Beharrlich und solide trug mich das Fahrrad, wenn es auch nicht das schnittigste war. Je weiter die Städte entfernt lagen, desto mehr begab ich mich auf sprachliche Abenteuerreise. Dass nur knapp die Hälfte der Esten angeben, Englisch zu sprechen, das schlug ich vorsichtshalber erst nach meiner Rückkehr nach.

Zur Not gibt es ja die digitalen Dolmetscher, da nun Russisch nicht meine Lieblingssprache ist. Je weiter östlich, desto mehr war es zu hören. Daneben ging es auch mit Händen und Füßen – etwa an einem Stand unweit vom Peipus-See, an dem ich mich mit Obst eindeckte. Offenbar gehörten die Verkäuferinnen zur Minderheit der „Altgläubigen“. Ihre Vorfahren flohen vor rund 350 Jahren aus dem Zarenreich, da sie eine Reform der Orthodoxen Kirche nicht mitmachten, die neben einigen rituellen Änderungen diese enger an die Herrscher band.

Ein See fast wie ein Meer – sieben Mal so groß wie der Bodensee! Doch plätschern die Wellen sacht ans Ufer. Bis zu 50 Kilometer wird er breit, irgendwo in der Mitte verläuft die Grenze zu Russland: Wo genau, ist auch umstritten. Offizielle Tafeln warnen mehrsprachig, sich nach Dunkelheit nicht mehr in oder auf dem See aufzuhalten.

Ich hielt mich im morastigen Strandbereich des Regionalzentrums Mustvee auf: Bis es endlich genug Wasser unter dem Körper zum Schwimmen gab, dauerte es jedoch – kaum fällt der Boden ab. Richtig tief wird der See nicht: meist nur acht Meter, selten mal 15 Meter. 

Das reichte allerdings aus, damit ein Kreuzritterheer des Deutschen Ordens und seiner Verbündeten rettungslos verloren war: Alexander Newski lockte mit seinen leichten, beweglichen Truppen die schwer gepanzerten Gegner anno 1242 aufs dünne April-Eis – der Rest lässt sich denken! Das Spätsommerlicht aber tauchte ihn in warme Farben.

Vier Kirchen, Kulturzentrum und Verwaltung, Strandcafé, Restaurant, und Busbahnhof, an dem sich mehrere Überlandlinien kreuzten, prägen Mustvee. Schließlich hat es stolze 1.600 Einwohner. Im Supermarkt konnte ich mich erneut auf Entdeckungsreisen begeben – nur zuhause ist der Einkauf für mich eine lästige Pflicht. Neben den üblichen Marken probierte ich gerne regionale Produkte aus – eine schmackhafte Salami im Kräutermantel. Nur Gurken „tšilliga“ verbrannten meinen Mund – tatsächlich voller Chili! 

Vom Peipus-See stieß ich durch schier endlose Wälder zur Ostsee durch: Zurück ging es rund 150 Kilometer an der beschaulichen Küste gen Westen zurück nach Tallinn – öfter mit Halt an einem lauschigen, kaum bevölkerten „rand“. Welcher dort mein Lieblingsort war? Das wäre eine wirklich schwere Entscheidung!

Fortsetzung zu kirchlichen Begegnungen in Estland folgt.