Facettenreiches Estland erfahren, II

101
Historisierendes Gemälde aus dem 19. Jahrhundert in der Tallinner Gildehalle zur Einführung der Reformation 1524. Foto: Borée
Historisierendes Gemälde aus dem 19. Jahrhundert in der Tallinner Gildehalle zur Einführung der Reformation 1524. Foto: Borée

Jubiläum der Reformation

Vor genau 500 Jahren, anno 1524, sandte Martin Luther angeblich persönlich den Prediger Johann Lange nach Tallinn. Der Bürgermeister mitsamt der Einwohnerschaft der Stadt soll ihn mit offenen Armen empfangen haben (vgl. das historisierende Gemälde in der Gildehalle oben rechts). Innerhalb weniger Jahre verbreitete sich der neue Glaube im Land. Er ließ sich durchaus als neue Macht einsetzen. Doch auch die alten Ordensritter, die die Region erst im 13. Jahrhundert zwangsweise christianisiert hatten, schlossen sich bald schon der Reformation an. Die Schweden schufen sich ab der Mitte des 16. Jahrhunderts eine Machtposition vor Ort. Russland löste sie ab 1710 im Großen Nordischen Krieg als Machtzentrum ab. Auch danach blieb die lutherische Konfession eine wichtige Identitätsfrage.

Im weiten Land mobil

Zunächst ging ich auf Entdeckungsreise nach Süden in die zweitgrößte Stadt Tartu – per Schnellstraße rund 180 Kilometer entfernt. Nichts für ein Fahrrad! So musste ich ihr teils weiträumig aus dem Weg gehen. Denn die Künstliche Intelligenz meiner beiden Navigationshilfen auf dem Handy ließen sich nur schwer davon überzeugen, dass ich wirklich nicht auf vierspurigen Straßen unterwegs sein wollte. Meine Wege waren etwa 50 Kilometer länger.

Estland ist flächenmäßig etwas größer als die Niederlande, wo aber fast vierzehnmal so viele Menschen leben. Auch die Bevölkerungsdichte in Deutschland ist gut achtmal höher. Selbst in Brandenburg leben noch dreimal mehr Menschen pro Quadratkilometer als in Estland. 

Hinzu kommt noch: 430.000 Menschen zentrieren sich im Großraum Tallinn, in Tartu als der zweitgrößten Stadt knapp 100.000. In beiden Städten lebt damit schon fast die Hälfte der Bevölkerung von 1,3 Millionen. 

Gerade beim Radeln erschien mir das Land fast unendlich. Die Dörfer und Mini-Städte liegen deutlich weiter voneinander entfernt als gewohnt – nur wenige Pedaltritte führen dann hindurch. Im Voraus buchte ich online meine Übernachtungen – auch mal an einem See mitten im Wald. Oft fand ich meinen Weg zur Übernachtung völlig kontaktlos: per Zahlencode im Chat mit den Vermietern. Am Anfang war es mir zwar ein wenig unheimlich, doch immer öffneten sich magisch die Türen!

Tatsächlich ist das Internet so gut wie sein Ruf und funktioniert auch mitten im Nirgendwo. Ich schaute mir auch an, wo Supermärkte zur Selbstversorgung an meinem Weg lagen. Selbst ein 500-Seelen-Ort ist da schon ein regionales Einkaufszentrum.

So erreichte ich Tartu: Schwedenkönig Gustav Adolf II. gründete dort 1632 die Universität, als er gleichzeitig im Dreißigjährigen Krieg in Deutschland kämpfte. Immer noch ist es die kulturelle Metropole mit 18.000 Studierenden. Die theologische Fakultät dort bildete einst alle lutherischen Pastoren Russlands aus. Dort genoss ich ausgiebig die Luft der diesjährigen Europäischen Kulturhauptstadt – obwohl diese schon eher beschaulich war. Auf dem Rathausplatz und den angrenzenden Straßen drängen sich Cafés und Restaurants. Ein gutes Dutzend Museen verteilt sich über die Innenstadt – meist klein und nicht immer geöffnet. Ein Bürgerhaus lässt das Leben im 19. Jahrhundert lebendig werden. Die Sternwarte die Forschungen des Astronomen Friedrich Struve. Adolf von Harnack stammt auch von dort. 

Um 1880 sprach ein gutes Drittel der Menschen dort Deutsch – gerade in der gebildeten Mittelschicht. Immer noch sprechen selbst Ticketverkäuferinnen und Kellner unsere Sprache. Schon im späten 19. Jahrhundert verließen viele Deutschbalten die Region, da das Zarenreich massiv russifizierte. Nach der Revolution setzten die Esten 1920 ihre erste Unabhängigkeit durch. Im Hitler-Stalin-Pakt fiel Estland an die Sowjetunion, die es 1940/41 besetzte und bereits damals Zehntausende Esten gen Osten verschleppte. Dann rückten die Nazis dorthin vor. 1944 eroberten es die Sowjets zurück.

Rund 70.000 Menschen flohen – längst nicht nur Baltendeutsche, sondern auch viele Esten, die sich erst oft nach vielen Irrfahrten ein neues Leben in den USA oder Kanada aufbauten. 1949 verschleppten die Sowjets erneut Zehntausende. Das Nationalmuseum in Tartu zeigt viele Entwicklungen bis zur zweiten Unabhängigkeit 1991.

=> Teil III: Meine Runde vollendet