Editorial im evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern von der Chefredakteurin Susanne Borée über Beobachtungen in Estland
Nein, billig war es nicht! Unterwegs in Estland war es keineswegs so, dass ich mich in einem Preisparadies wiederfand. Die Einkäufe schienen mir vergleichbar mit denen in Deutschland zu sein – manches teurer. Dabei ist das Lohnniveau deutlich geringer als hier. Mit bis zu 20 Prozent Inflation 2022 hatten sie die höchste Preissteigerung in einem Euro-Land. In Deutschland hatten wir etwa ein Viertel – und dennoch schier den Weltuntergang.
„Och, es war schon mal schlimmer“, so reagierten mehrere estnische Gesprächspartner fast gleichlautend auf meine entsprechenden Fragen. 1993 etwa, bald nach der Unabhängigkeit und der Einführung der Estnischen Krone ökonomisch in stürmischen Gewässern segelte. „Da waren doch fast hundert Prozent Inflation“, erinnert sich einer meiner Gesprächspartner.
Alles eine Frage der Perspektive? Seit der Unabhängigkeit waren fast immer liberale Regierungen in Estland am Ruder: Alles, was über den Grundsatz „Niemand soll verhungern, niemand soll erfrieren“ hinausging, fiel hinten runter.
Das klingt in meinen Ohren nicht wirklich barmherzig. Doch: „Die größte Armut hat sich verringert“, bestätigten mir weitere Gesprächspartner auch von Kirchenseite. In Suppenküchen hörte ich, dass viel weniger Menschen kommen würden als früher. Nur einmal sah ich einen Bettler – und der war fast schüchtern.
War diese Politik also letzlich erfolgreich? Gerade auch bei der sprichwörtlichen digitalen Infrastruktur, obwohl zur Unabhängigkeit noch nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung überhaupt einen Telefonanschluss besaß!
Da mischt sich dann unmerklich Bewunderung unter mein Kopfschütteln. Die Infrastruktur mit ihren Straßen, sogar Busstationen und Fahrradwege war deutlich neuer als hierzulande gewohnt – nur die Außenperspektive?
Distanziert und effizient erschien mir das Land immer wieder bei meiner Fahrradtour. Nicht nur bei meinen Übernachtungen, die sich mit digital zugesandten Zahlencodes kontaktlos öffnen ließen.
Ist es dies Gefühl, an den Herausforderungen der vergangenen Jahre gewachsen zu sein, das vielen Esten ein solches Selbstbewusstsein im Umgang mit den aktuellen Bedrohungen mit Russland zu geben scheint? Falls Ängste da sind, sind sie gut versteckt. Das Land wird nicht mehr billig zu haben sein.