Jerusalem – ein Ort zum gelingenden Leben

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern zum Israelsonntag

Jerusalem ist eine faszinierende Stadt. An vielen Stätten leben Menschen ihre Frömmigkeit mit großem Ernst. Jerusalem als heiliger Ort für Juden, Christen und Muslime strahlt etwas von der Kraft der Religionen aus. Jerusalem ist aber auch eine spannungsgeladene Stadt: Spannungen und Feindschaft zwischen den Religionen – in Jerusalem werden sie gebündelt spürbar: Diese Stadt atmet Religion aus vielen Poren. Wie durch ein Brennglas sind in dieser Stadt auch diese Spannungen besonders präsent. Das macht Jerusalem auch anstrengend. 

Ein provozierend anderes Bild von Jerusalem bringt der Predigttext aus Sacharja 8,20–23 in Spiel: „So spricht der HERR Zebaoth: Es werden noch Völker kommen und Bürger vieler Städte, und die Bürger der einen Stadt werden zur andern gehen und sagen: Lasst uns gehen, den HERRN anzuflehen und zu suchen den HERRN Zebaoth; wir wollen mit euch gehen. o werden viele Völker und mächtige Nationen kommen, den HERRN in Jerusalem zu suchen und den HERRN anzuflehen.  

Diese Vision des Propheten Sacharja stammt aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., aus der Zeit, in der der zweite Tempel errichtet wurde, einer Aufbruchszeit nach der Katastrophe. Jerusalem ist der Ort der heilsamen Gegenwart Gottes. „Viele Völker und mächtige Nationen“ machen sich auf zur Wallfahrt zum Zion. Sacharja malt ein Bild vom gelingenden Leben in der heiligen Stadt Jerusalem für das jüdische Volk und die Vielen aus den Nationen – das ist ein Gegenprogramm zu den nüchternen Fakten und Argumentationsketten, die unsere Wahrnehmungen im Blick auf die verfahrene politische Lage im Heiligen Land jetzt prägen. 

Menschen aus vielen Nationen sind von einer gemeinsamen Sehnsucht getragen: „Lasst uns gehen, den HERRN anzuflehen und zu suchen den HERRN Zebaoth.“ Beim Herrn Zebaoth gibt es das, was sie beharrlich suchen. Unabhängig von Religion und Nation sind sie verbunden und kommen auf einen gemeinsamen Weg: Das Bild vom gesegneten, gelingenden Leben entfaltet seine Kraft. 

Zwei Klarheiten gibt uns die Vision des Sacharja: Dieses Bild von Jerusalem als Ort des heilsamen Miteinanders von Vielen ist nicht machbar, aber ausstrahlungsstark: Die Gegenwart Gottes ist und bleibt unverfügbar, sperrt sich gegen Interessen der Mächtigen. Sie hat aber etwas Ansteckendes und bringt Menschen gemeinsam auf den Weg eines Miteinanders, der für alle neu ist. Und: Die Erfahrung des jüdischen Volkes als auserwähltem Volk Gottes ist Ausgangspunkt des Heils für die Völker. Es sind die Heilserfahrungen des jüdischen Volkes, die die anderen aufnehmen: Christen, Menschen anderer Religionen ahnen: in jüdischen Erfahrungen steckt auch für mich Kraft und neues gelingendes Leben. Das Trennende verliert Bedeutung, weil die Gegenwart Gottes einen gemeinsamen Weg für die vielen, ausgehend vom jüdischen Volk und seinen Erfahrungen mit diesem Gott, eröffnet.  

Auch wenn die aktuellen Realitäten in Israel eine ganz andere Sprache sprechen: In massiv verfahrenen Situationen können neue Bilder gelingenden Lebens Ausweg aus der Ausweglosigkeit sein und andere Wirklichkeit eröffnen. Gott steht zur Erwählung des Volkes Israel, nicht zur Politik des Staates Israel, und zur Erwählung der Vielen aus den Völkern. Friede für Israel wird auch Frieden für Palästina bringen. 

Jörg Hammerbach, Dekan in Weilheim