… und hätte der Liebe nicht …

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern zum Hohelied der Liebe

Wenn ich mit Menschen- und mit Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. 

aus 1. Korinther 13, 1–13

„Frau Pfarrerin, der Bibeltext ist falsch!“, ruft mich aufgeregt ein Mann an. Es ist der Brautvater. Wir hatten besprochen, dass er im Traugottesdienst das Hohelied der Liebe vorlesen würde. Hat er etwa Zweifel bekommen am Inhalt? Ist er nicht einverstanden damit, dass die Liebe alles erträgt, glaubt, hofft und duldet, weil er vielleicht ganz andere Erfahrungen gemacht hat im Leben? Nein. Im Gespräch stellt sich heraus, dass es kein inhaltliches, sondern ein grammatikalisches Problem ist, das er mit der Luther-Übersetzung hat: Hätte ich der Liebe nicht, stört den Mann. „Das heißt doch nicht der, sondern die Liebe!“ 

Schon klar. Aber Luther wollte vermutlich ausdrücken, dass ein Mensch niemals „die“ Liebe haben, besitzen oder in Vollkommenheit leben kann, sondern immer nur ein kleines Stück von der großen Liebe Gottes in seinem Leben aufblitzt. Hätte ich von der großen Liebe Gottes nie etwas mitbekommen, dann bliebe mein Leben armselig und unerfüllt, selbst wenn ich noch so viele gute Dinge tun würde. Das Hohelied der Liebe preist Gott als den Ursprung und Grund allen liebevollen Handelns, allen Engagements, aller Treue und menschlichen Wärme. 

In diesem Leben sehen wir immer nur kleine Ausschnitte davon, nie das Ganze. Oft sind unsere Erfahrungen von Liebe ja getrübt – durch Enttäuschungen, Missverständnisse, Schicksalsschläge oder schleichende Entfremdung zwischen Menschen. Niemand kommt um solche Erfahrungen herum. Auch kein verliebtes Brautpaar. Das Paradies auf Erden gibt es nicht. In der Familie, in unseren Beziehungen, im Freundeskreis, im Beruf, in der Politik: überall herrschen neben aller Zuneigung und Liebe auch Konflikte und Streit. Anders ist das Leben nicht zu haben. 

Sich das bewusst zu machen, hilft, mit realistischem Blick durchs Leben zu gehen. Wie herrlich sind dann die Momente, in denen Gespräche glücken, Zärtlichkeit uns berührt oder ein tiefes Verstehen sich breitmacht. Erfüllte Augenblicke von Liebe und Glück sind das, wunderbare, unvergessliche Geschenke. 

Für Paulus gehen solche Momente auf Gott zurück. Eines Tages, so ist er sicher, werden wir mehr sehen als nur Bruchstücke der Liebe Gottes. Wir werden erkennen, was die vollkommene Liebe ausmacht: Gott selbst, von dem alles kommt und zu dem alles zurückkehrt. 

Bis dahin gilt es, Kompromisse zu machen. Auch im Hinblick auf Traditionen. Der Mann hat bei der Hochzeit seiner Tochter den Text schließlich aus der Einheitsübersetzung gelesen: „Wenn ich alle Geheimnisse wüsste und alle Erkenntnis hätte; wenn ich alle Glaubenskraft besäße und Berge damit versetzen könnte, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich nichts.“ Ich glaube, er hat das aus Liebe getan.

Pfarrerin Uli Wilhelm, Garmisch-Partenkirchen

Gebet: Ich glaube fest, dass Gott die Liebe ist, und dass er an der Liebe alles misst. Ich glaube fest, das Ziel ist nicht mehr weit,  ich hoffe auf die Zeit voll Frieden und Gerechtigkeit. Amen. (Martin Bogdahn, KAA 079,2)