Die Tür ist offen

353
Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über Moralpredigten

„Ich gehe dann mal besser, denn jemand wie ich passt wohl nicht in ihre heiligen Hallen“. Der junge Mann springt auf. Tränen des Zorns und der Trauer in seinen Augen. „Und … sparen Sie sich bitte die Moralpredigt.“ 

„Früher war ich moralisch, heute bin ich Pfarrerin“. Er ist genauso verblüfft wie ich über diese Worte, die einfach so aus mir herausgekommen waren. „Was soll das heißen?“ fragt er stirnrunzelnd und setzt sich wieder auf den Stuhl, von dem er gerade aufgesprungen war.

„Als ich jünger war, wusste ich genau was richtig und falsch ist, was sich gehört und sich nicht gehört. Ich wusste, wer fromm ist und wer nicht und war damit sehr zufrieden, denn so war das Leben leicht. Kategorisierbar, berechenbar, übersichtlich. Mit den Jahren merkte ich aber, dass die Welt komplexer ist. Nur ein Beispiel: Bei einem Taufgespräch gab mir der Vater des Kindes deutlichst zu verstehen, dass er Kirche und Glaube für überflüssig und weibisch hält. Trotzdem wurde seine kleine Tochter im Gemeindegottesdienst getauft. In einer vollen Kirche und mit einem russischen Männerchor. Während des Gottesdienstes sah ich, dass der Vater weinte. Nicht aus Rührung, sondern aus einem anderen, ganz tiefen Grund, den nur er und Gott kannten. Er weinte auch noch als die Leute nach dem Schlusssegen zu ihm und seiner Frau traten, um ihnen zu gratulieren. Viele umarmten ihn spontan und er ließ es zu. Ich habe ihn danach noch oft gesehen. 

Mit der Zeit lernte ich, dass das Bild, das ich von Menschen habe, nicht schwarz-weiß ist, sondern eine Menge Grautöne beinhaltet. Lebensgeschichten sind vielschichtig und ich kenne nur einen Ausschnitt. Wie war ich moralisch entsetzt, als mir eine Frau erzählte, dass sie ihr behindertes Kind in ein Heim gegeben hat. Jetzt arbeite ich in der Kinderhospizarbeit und erlebe, wie kräftezehrend es sein kann, über Jahre und Jahrzehnte rund um die Uhr pflegen zu müssen. Die Indianer kennen das schöne Sprichwort: urteile nicht über jemanden, bevor du nicht einen Monat in seinen Mokassins gelaufen bist. Ich glaube, da steckt ganz viel Wahrheit drin.“

„Das ist nett, was sie sagen. Ist das auch kirchenkonform?“ fragt der junge Mann. „Es gibt im Matthäus-Evangelium diese wunderbare Stelle, in der für mich ganz klar wird: nicht das Gesetz steht im Vordergrund, sondern die Liebe.“

Und es begab sich, als er zu Tisch saß im Hause, siehe, da kamen viele Zöllner und Sünder und saßen zu Tisch mit Jesus und seinen Jüngern. Als das die Pharisäer sahen, sprachen sie zu seinen Jüngern: Warum isst euer Meister mit den Zöllnern und Sündern? Als das Jesus hörte, sprach er: Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken. Geht aber hin und lernt, was das heißt: ,Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.‘ Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, sondern Sünder. 

Matthäus 9, 9–13

„Ich bin in ihren Augen ein Sünder?“ er hebt fragend die Augenbraue. „Luther hat gesagt: wir sind alle Sünder. Für mich heißt das: wir Menschen sind nicht perfekt. Wir werden immer schuldig. An uns, an anderen, oder an Möglichkeiten, die wir gehabt hätten. Und trotzdem fängt Gott immer wieder neu mit uns an. Er wendet sich nicht angewidert von uns ab. Im Gegenteil: er wendet sich uns aufmerksam zu. Wir sind, nicht nur Sünder, sondern gleichzeitig auch Gerechte. Gott sieht in uns die Person, die wir sein könnten, wie er uns gedacht hat. Heil, hell, ganz, voller Liebe, tief im Frieden. Wer so geliebt und angenommen ist, der lebt das auch, irgendwie.“ 

Der junge Mann sieht mich nachdenklich an. „Erwarten Sie bitte nicht, dass ich jetzt gläubig werde.“ „Ich stecke nicht in ihren Schuhen“, sage ich, „aber die Tür ist offen. Wir sind eine Gemeinschaft der Suchenden, der Aufrechten und Gebückten, der Kranken und Gesunden, der Geraden und Schrägen. Manchmal ist der eine stark im Glauben und dann wieder die andere. Vor allem aber: wir sind füreinander da. 

Mein Gegenüber schweigt, dann lächelt er: „Schräg? Das sind sie definitiv Frau Pfarrer“. Als er schon fast durch die Tür ist, dreht er sich um, umarmt mich und verschwindet. 

Pfarrerin Sandra-Marina Gassert, Penzberg