Schicksale im Heim besiegelt

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Detail vom Buchcover der Historischen Untersuchung von Thomas Greif
Detail vom Buchcover der Historischen Untersuchung von Thomas Greif

Thomas Greif untersucht Verstrickungen eines fernen Wurzelstranges der Rummelsberger

Die Schwester war entsetzt und „tief erschüttert“: Auf den plötzlichen Tod Hermann Hakelbergs reagierte Johanna mit einem dreiseitigen Brief an die Anstaltsleitung. Wie konnte es zu dem plötzlichen Tod des 36-jährigen Bruders kommen, mit dem sie kurz zuvor noch Briefe getauscht hatte? Warum die plötzliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes bei einer gleichzeitigen Verlegung? Warum keine rechtzeitige Benachrichtigung der Angehörigen, damit sie zur Beisetzung kommen konnten?

Hier schreibt „jemand mit wachem Verstand“, so der Rummelsberger Historiker Thomas Greif, die „die Mörder auf frischer Tat ertappt.“ Denn Hermann Hakelbergs Tod war 1941 gewollt. Als Epilepsieerkrankter in dem ostpreußischen Pflegeheim Carlshof sollte er nicht mehr weiterleben.

Diese einstige Einrichtung der Inneren Mission wurde bereits 1939 vom NS-Staat abgewickelt. Schließlich lagen sie räumlich nahe an dem Führerhauptquartier der „Wolfsschanze“. Solche Anstalten hatten damals an dieser Stelle noch weniger zu suchen als anderswo.

Denunziationen von deutschchristlichen Diakonenschülern gegenüber der Anstaltsleitung sollen dabei ein Mittel der Wahl des NS-Staates gewesen sein, um das Heim zu zerschlagen. Oder waren es Spitzel der Gestapo, wie andere Zeitzeugen abschwächen? „Die Frage des Anlasses oder des taktischen Vorgehens ist für die weitere Entwicklung der Dinge allerdings letztlich unerheblich, denn es ist sicher, dass der NS-Staat aus den oben genannten Gründen auf jeden Fall irgendeine vorgeschobene Möglichkeit gefunden hätte, um die Anstalten aufzulösen“, so Thomas Greif. 

Es nutzte da auch nichts, das der Anstaltsleiter Heinz Dembowski noch 1938 eilfertig versicherte, dass „die Carlshöfer Anstalten zu dem heutigen Staate unbedingt positiv stehen“ und alles täten, um die Partei aktiv zu unterstützen. Offenbar nicht nur Taktik, denn viele Diakone waren aktiv im NS-Dienst.

Der Rummelsberger Historiker hat nun die Geschichte dieser Einrichtung ausführlich beschrieben. Warum wendet er aber seinen Blick so weit nach Osten? Die überlebenden 95 Diakone vom Carlshof hatten sich nach dem Kriegsende 1945 der Rummelsberger Brüderschaft angeschlossen. Kontakte aus der Vorkriegszeit waren wohl wegweisend. 

Das Schicksal dieser Gemeinschaft sei einer der Wurzelstränge, wenn auch ein Seitentrieb, der Rummelsberger Brüderschaft. Die neuen Brüder waren meist verstreut über Deutschland als Pfarrverwalter, Heimleiter oder in anderen Berufen tätig – auch in der späteren DDR. 

Die Carlshöfer Anstalten waren 1882 bei Rastenburg, dem heutigen Ketrzyn in Masuren, gegründet worden. Sie gehörten als „Bethel des Ostens“ zu den großen Einrichtungen der Inneren Mission, so Greif. 1939 lebten 872 Menschen dort, die meist an Epilepsie erkrankt waren und oft zusätzlich geistig beeinträchtigt waren. Bis Ende 1940 ging der Betrieb unter staatlicher Leitung weiter. Dann setzte das Morden ein. 

181 Schicksale hat er in dem Anhang des Werkes namentlich genannt und ihre Lebensdaten so gut es geht skizziert. Eine mühsame Kleinarbeit! Viele wurden vor ihrer Ermordung häufig verlegt – wohl um „Unübersichtlichkeit zu schaffen“, aber auch um sie zu schwächen. Viele starben nach ihrer Verlegung an Hunger oder überdosierter Medizin – oder in Hadamar  gezielt vergast. Nur einer überlebte nachweisbar. Von 6.100 Heimbewohnern in Ostpreußen wurden mindestens drei Viertel ermordet, deutschlandweit waren es um die 300.000 Menschen, so Greif. Kaum jemand fragte so intensiv nach ihnen wie Hakelbergs Schwester. 

1938 soll es 169 Angehörige der Brüderschaft gegeben haben. Nach dem Krieg, „zum Zeitpunkt des Beitritts ging man in Rummelsberg von 111 ehemaligen Carlshöfer Diakonen aus“, so Greif. Er konnte 95 namentlich zuordnen. Von 86 fand er die Personalakten. Das Schicksal der Heiminsassen habe in der Nachkriegszeit in der „Erinnerungspflege“ kaum eine Rolle gespielt. 

„Sprachlosigkeit“ aufgrund mehrfachen Verlustes, da auch die Heimat verlorenging? Die Katastrophe habe nach dem Einmarsch der „Russen“ begonnen, so hieß es später. Der Verfasser des Nachrufes auf den einstigen Heimleiter Dembowski, der 1945 auf der Flucht umkam, wusste mehr: Er sprach vom Gastod der Pfleglinge.

=> Mehr unter https://www.diakoniemuseum.de

Buchtipp: Thomas Greif: Carlshof. Geschichte einer ostpreußischen Anstalt und ihres Nachlebens, Rummelsberger Reihe 23, 198 Seiten, ISBN 978-3-939171-74-4.