Aufrecht durchs Leben gehen

464
Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern über den aufrechten Gang

„Oh Mensch, bewein Dein Sünde groß!“ – dieses Lebensgefühl ist uns heute fremd. Psycho-Ratgeber auf Instagram empfehlen maximale Selbstliebe: Der Weg zum Glück geht über Selbstliebe. Ist „Sünde“ für Menschen heute ein relevantes Thema? Jesus macht es. In der Erzählung aus Markus 2, 1–12, in der Freunde einen Gelähmten durchs Dach herunterlassen, damit Jesus ihn heilen kann, spricht er erst von Sünde, bevor er den Gelähmten heilt: „Dir sind Deine Sünden vergeben.“ sagte er zuerst zu dem Gelähmten. 

Das überrascht! Warum stellt Jesus diesen Zusammenhang zwischen Sünde und Krankheit her? War der Gelähmte ein besonderer Sünder, wenn Jesus erst die Sünde vergeben muss, bevor er ihn körperlich heilt? Was hat Krankheit mit Sünde zu tun, wenn Jesus erst die Sünde vergibt und dann den erlösenden Satz spricht: „Steh auf nimm Dein Bett und geh!“ – Vor allem: Berührt das Menschen noch, die sich über Selbstliebe Gedanken machen, wenn Jesus ihnen ihre Sünde vergibt? 

Es scheint, dass Jesus bei dem Gelähmten eine komplizierte innere Lähmung beendet, indem er sagt: „Dir sind Deine Sünden vergeben!“ Innerlich gelähmt sein – das erleben auch Menschen in unserer Zeit: Wenn Angst sie befällt, dass unsere Welt auf finstere Zeiten zusteuert, dass wichtige Beziehungen scheitern, dass es den eigenen Kindern nicht mehr so gut geht wie der Generation, die in den 60er Jahren geboren wurde. Das wirkt sehr lähmend. 

„Dir sind Deine Sünden vergeben?“ – Das sind keine einzelnen Tatsünden, die „sich wie Körnlein finden“. Luther erklärt Sünde als „incurvatio in se ipsum“ – als „Verkrümmt sein in sich selbst“: Die Tendenz von Menschen, nicht von Gott, dem Schöpfer und Erhalter des Lebens, Heil und Leben zu erwarten, sondern sich in sich selbst zurückziehen und so zu leben, als ob es Gott nicht gäbe. Schon bei Kain und Abel stehen zwei Lebensformen nebeneinander: Der Mensch, der aufrecht läuft und Gott als Herrn sucht, und der Mensch, der sehr mit sich selbst beschäftigt ist: „Ist’s nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie“ (1. Mose 4, 7). 

Fromm sein meint genau das: Ich erkenne Gott als Gott meines Lebens an! Ich gestalte Leben aus meiner Gottesbeziehung. Wenn Jesus dem Gelähmten sagt: „Dir sind Deine Sünden vergeben“, dann stellt er ihn in die neue Gottesbeziehung, in der schlicht „alles gut“ ist. Unser Menschsein ist auf diese Beziehung zu unserem Gott und Schöpfer angelegt. 

Die „Verkrümmung in sich selbst“, die immer wieder Angst und tiefe Verunsicherung bringt, endet, wenn ein Mensch Gott findet und frei den Blick zu ihm erhebt. Jesus richtet den Gelähmten auf Gott aus, wenn er ihm die Sünde vergibt. Die körperliche Heilung ist dann ein stimmiger zweiter Schritt nach diesem inneren Heilwerden. 

Auch wenn der Begriff „Sünde“ alles andere als leicht zu erschließen ist: Die Sehnsucht innerlich aufgerichtet zu sein und aufrecht durchs Leben zu gehen, haben viele Menschen. Nichts anderes macht Jesus, wenn er dem Gelähmten sagt: „Dir sind Deine Sünden vergeben“. und ihm eine neue, heilvolle Gottesbeziehung eröffnet.  

Dekan Jörg Hammerbacher, Weilheim

Lied 372, 4: Was Gott tut, das ist