Neubewertung mehr als notwendig

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Editorial von Martin Ben-Baier, Chefredakteur des Evangelischen Sonntagsblattes aus Bayern

Editorial von Chefredakteur Martin Bek-Baier im Evangelischen Sonntagsblatt

Wir evagelischen Christen in Deutschland begehen an diesem Sonntag den jährlichen Israelsonntag. Ein Tag, an dem wir die Solidarität und die Geschwisterlichkeit zu dem Volk Israel und Menschen jüdischen Glaubens ausdrücken wollen. Ausgerechnet in der vergangenen Woche fühlten sich allerdings die Hinterbliebenen der  israelischen Opfer des Olympiaattentats von 1972 so ungerecht von der Bundesrepublik behandelt, dass sie die Einladung zu einer geplanten Gedenkfeier ablehnten und diese boykottieren wollen –  so ist jedenfalls der Stand der Dinge beim Schreiben dieser Zeilen und unserem Redaktionsschluss.

Bei der Entführung israelischer Sportler bei den Olympischen Spielen in München 1972 gab es von behördlicher Seite Pannen und Fehler, so dass alle Geiseln umkamen. Die Hinterbliebenen fühlen sich von der Bundesrepublik ungerecht behandelt, da Entschädigungszahlungen und eine umfangreiche Aufarbeitung der Geschehnisse – aus ihrer Sicht – unzureichend sind.

Bayerns Antisemitismusbeauftragter Ludwig Spaenle hat deswegen eine Absage der Gedenkfeier zum 50. Jahrestag des Olympia-Attentats 1972 gefordert. Selbst die Bundesregierung hält eine Neubewertung des Umgangs mit den Ereignissen von damals für erforderlich. Da frage ich, woran liegt es denn, dass man es soweit hat kommen lassen, dass es zu dem peinlichen und unwürdigen Eklat kam? Natürlich kann man Zweifel haben, ob finanzielle Gutmachung Trauer aufwiegen und Gerechtigkeit wieder herstellen kann. Aber ich denke, es geht um eine ausgestreckte Hand Deutschlands. Es geht um eine sichtbare Geste, dass man den Angehörigen entgegenkommt, Schuld eingesteht, ihren Verlust wahrnimmt und aufrichtig bedauert.

Der Bibeltext für den heutigen Sonntag dreht sich auch um Gerechtigkeit (lesen Sie die Andacht unten). Unser Autor schreibt, dass Jesus Christus die Gesetze des Alten Testaments als Gestaltungsraum verstanden hat. Manch schwerverständliche Wort der Bibel können – richtig verstanden – auch in unserer heutigen Zeit Geltung haben und Zuspruch sein. 

Ich denke in diesem Zusammenhang gerade an das oft missverstandene Wort „Auge um Auge“, bei dem es eben nicht um rachsüchtige Vergeltung, sondern um gerechten Ausgleich ging und geht. Also worauf warten wir, wenn es uns mit der Solidarität ernst ist?