Eine Unverschämtheit!

424
Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern zeigt, wie Unverschämtheit gewinnt

Und er sprach zu ihnen: Wer unter euch hat einen Freund und ginge zu ihm um Mitternacht und spräche zu ihm: Lieber Freund, leih mir drei Brote und der drinnen würde antworten und sprechen: Mach mir keine Unruhe! Ich kann nicht aufstehen und dir etwas geben. Ich sage euch: Und wenn er schon nicht aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seines unverschämten Drängens aufstehen. 

aus Lukas 11, 1–13

Jesus lädt uns ein, unverschämt zu sein. Wenn wir uns an Gott wenden, dann können wir das ohne falsches Schamgefühl tun. Also gerne auch dreist drängelnd, ohne vornehme Kontrolle unserer Gefühle, hemmungslos und ohne Bedenken: Was könnte Gott wohl von mir denken? Habe ich die richtigen Worte? Vor Gott muss ich mich nicht verstecken, sondern kann ihm mein Innerstes unverschämt zeigen und ihm meine existenzielle Not und Angst schildern.

Jesus war auch ein Dichter. Mit der Ruhestörung um Mitternacht und dem bittenden Sohn entwirft er ein eindrückliches und ansprechendes Bild, um uns zu erinnern: Denkt nicht zu gering von Gott! Traut Eurem Gebet etwas zu! Klopft bei Gott an, ja hämmert ihm gleichsam an die Tür, auch wenn es Mitternacht ist. Und das heißt im übertragenen Sinne: Erwartet etwas von Gott, auch wenn alles dagegen zu sprechen scheint! Es ist also eine Aufforderung, mit einem lebendigen Gott zu rechnen und ihm zuzutrauen, dass er unser Leben zum Besseren verändern kann. Unser Gebet darf leidenschaftlich, ja unverschämt sein.

Es ist interessant, wie Jesus argumentiert. Vom Menschen her zu Gott hin. Und er tut das mit einem erstaunlich positiven Menschenbild. Wir denken oft eher umgekehrt: Weil Gott gut ist, müssen wir auch gut sein. Ganz anders Jesus: Vielleicht muss man ja manchmal Sturm läuten, aber Menschen helfen einander. Wer würde nicht der dringenden Bitte eines Freundes oder gar des Sohnes nachgeben und helfen? Insgeheim fragen wir uns heute möglicherweise: Stimmt das? Kennen wir nicht auch ganz andere, schlimme Beispiele von Hilfsverweigerung, ja von barbarischer Gewalt? Jesus aber geht erst einmal davon aus, dass Menschen für einander da sind, einander helfen. Und wenn das so ist, dann wird doch wohl – so Jesus – auch Gott in noch viel stärkerem Maße für uns da sein. Menschlich erzählt Jesus von Gott, und Gott wird menschlich gedacht. Was für ein Segen, wenn wir so unverbittert und positiv von anderen Menschen und auch von Gott denken könnten, trotz aller gegenteiligen Erfahrungen.

Das kann die Beschreibung einer christlichen Lebenshaltung sein. Ich spüre immer wieder: Ich bin bedürftig. Ich habe Grenzen, bin nur begrenzt kompetent, belastbar und liebenswürdig. Und gleichzeitig ist in mir noch Leben. Denn wer bittet, wer sucht, wer anklopft, will ja etwas, erhofft sich etwas und hat noch nicht resigniert. Ich habe mich dann mit meinem Leben, mit dieser Welt noch nicht abgefunden. In mir ist noch Sehnsucht. Die Haltung des Bittens, Suchens und Anklopfens ist eine zutiefst zuversichtliche Lebenseinstellung, die die Schattenseiten des Lebens und der Welt nicht ausblendet. Martin Luther hat am Ende seines Lebens gesagt: „Wir sind Bettler. Das ist wahr.“ Das klingt erst einmal wenig attraktiv und ist doch das, was Jesus meint: Trotz Deiner Bedürftigkeit – bleib zuversichtlich und traue Gott etwas zu! Bleib lebendig! Und bleib Gott
und den Menschen positiv zugewandt!

Barmherziger Gott, erhalte mir das Bitten, damit ich nicht verbittert werde, sondern auf Dich hoffe und vertraue. Erhalte mir das Suchen, damit ich nicht in Versuchung gerate, alles schon zu wissen und zu kennen. Erhalte mir das Anklopfen, damit Du Türen öffnest, die zum Leben führen. Amen.

Dekan Bernhard Liess, München