Vorbilder für lebensbejahenden Glauben

673
Muslimisches Gebet im Gefängnis.
Muslimisches Gebet im Gefängnis. Foto: privat

Möglichkeiten und Grenzen muslimischer Gefängnisseelsorge 

„Wir lieben alle Geschöpfe, weil wir den Schöpfer lieben.“ Dieser Ausspruch eines türkischen Sufi-Gelehrten gewann für Talip Iyi noch einmal ganz neue und grundlegende Bedeutung bei Seelsorgebesuchen in Gefängnissen. Als Vorsitzender der Begegnungsstube Medina e.V. in Nürnberg ist es ihm wichtig, „das Verständnis zwischen den Menschen und Religionen in Deutschland für ein friedliches Zusammenleben“ zu fördern. 

Die Motivation dafür ziehen er und seine Mitstreiter aus dem islamischen Glauben und der Spiritualität. Neben der engen Zusammenarbeit mit Schulen oder Pflegeheimen ist Talip Iyi die Gefängnisseelsorge besonders wichtig. Im Nürnberger Haus „eckstein“ berichtet er am 17. Mai ab 19 Uhr zusammen mit Imam Husamuddin Meyer und dem katholischen Gefängnisseelsorger Andreas Bär über ihre Arbeit. Die Stadtakademie und das Caritas-Pirckheimer-Haus organisieren den Abend. Mit dem Sonntagsblatt sprachen er und Husamuddin Meyer im Vorfeld über Chancen und Grenzen ihrer Arbeit.

Die Begegnungsstube Medina e. V. gehöre keinem islamischen Verband an und sei somit ausdrücklich neutral sowie finanziell unabhängig. Insgesamt in sechs Justizvollzugsanstalten (JVAs) in Nordbayern zwischen Bamberg, Ebrach und Nürnberg besuchen er und seine Teammitglieder regelmäßig und bieten Seelsorge für Menschen mit muslimischem Glauben an.

Nach der Corona-Zwangspause, in der sich gerade Gefängnisse aus Sorge vor Ansteckungen abschlossen, war es gerade für ehrenamtlich Aktive wie Talip Iyi schwierig, dort Besuche machen zu können. Jetzt starten sie wieder durch. 

Dankbar ist er da immer wieder gegenüber den christlichen hauptamtlichen Gefängnisseelsorgern, die ihren Kreis etwa mit Kaffee oder Tee versorgen würden, so dass eine bessere Gesprächsatmosphäre „wie in einem Teehaus“ möglich sei. 

Unter viel idealeren Bedingungen betreut Husamuddin Meyer Inhaftierte muslimischen Glaubens in der hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden. Er ist sufischer Imam und seit 2008 als erster islamischer Gefängnisseelsorger Deutschlands da tätig. 

In der JVA Wiesbaden ist er seit längerem mit 14 Stunden pro Woche als Gefängnisseelsorger vor Ort. Er feiert mit muslimischen Insassen das Freitagsgebet. Und er predigt, dass es im Islam verboten ist, Unschuldige zu töten. Seine weitere Arbeitszeit füllt sich mit Vorlesungen, Vorträgen oder Trainingseinheiten zur Deradikalisierung.  Weitere muslimische Seelsorgende arbeiten in der Untersuchungshaft oder im Frauenvollzug. Gerade unter den jüngeren Gefangenen seien mehr Menschen muslimischen Glaubens als christliche Altersgenossen. 

Alle 16 Gefängnisse in Hessen boten schon 2019 islamische Seelsorge an. Das Land beschäftigte zwölf Imame als Honorarkräfte. Im Gegensatz zu Talip Iyi und seinem Team konnten sie während der Pandemie weiter da sein. „Natürlich unter erschwerten Bedingungen“, fügt Meyer sofort hinzu. Also: mit Maske, möglichst mit Plexiglas-Wand, ansonsten vier Meter Abstand zu ihm und jeweils anderthalb Meter Abstand zwischen den Gefangenen. 

Aber die Seelsorge als solche war in Hessen als „Grundbedürfnis anerkannt“ – im Gegensatz etwa zu Besuchen von Angehörigen im Vollzug. Da waren er und seine Mitstreiter oft der einzige direkte Kontakt der Inhaftierten nach draußen. „Wir geben ihnen unseren guten Zustand und nehmen ihren schlechteren Zustand mit“, so Husamuddin Meyer. 

Gerade bei psychischen Auffälligkeiten der Inhaftierungen, bei einem möglichen Drogenkonsum oder wenn sie noch als Geflüchtete unter Bürgerkriegstraumata leiden, muss die Gefängnisseelsorge viel auffangen. Und den Insassen überhaupt erst einmal ein wenig Selbstwertgefühl vermitteln. Mangelt es daran und leiden sie etwa gar noch unter Selbsthass, hält Meyer sie besonders gefährdet für eine Instrumentalisierung und Radikalisierung

Vorbild „Goldener Zeiten“

Gruppengespräche sind auch in Bayern der wichtigste Teil der Arbeit. Gerade schwache Persönlichkeiten mit wenig Bildung und wenig Wissen über die Religion – unter Häftlingen nicht selten – seien anfällig für eine mögliche Radikalisierung. Dagegen lehrt Talip Iyi, dass Toleranz im Islam wesentlich sei. 

Niemand dürfe sich in die Privatsphäre anderer Menschen einmischen. Dazu bezieht er sich auf das „Goldene Zeitalter“ des Islam im Mittelalter, als die Religion ein Hort der Toleranz gewesen war. Erst die letzten rund 150 Jahre hätten durch „Depression und Kolonialismus“ zu einem Verfall des bisherigen klugen Verhaltens geführt.

Am Ende der Gesprächskreise ist es für ihn wichtig, Zeit für ein Gebet zu finden, das „möglichst einer von den Gefangenen anleiten“ sollte. Gebete fördern für ihn nicht nur die Gottesfurcht, sondern auch die Selbstkontrolle. Er selbst wurde als Kind so erzogen, immer möglichst auf den Boden zu schauen, um Tiere nicht versehentlich zu zertreten und ihnen Nahrung zu verschaffen.

Im „gelebten Islam“ will Iyi zeigen, „wie mir die Religion Kraft gibt, anderen zu helfen“. Selbst ihr Fahrgeld würden sie nach Iyis Worten dazu einsetzen, Gebetsteppiche, Bücher oder die traditionellen islamischen Kopfbedeckungen für Inhaftierte zu besorgen.

Da beklagt er mangelnde Möglichkeiten, Gefangenen nach ihrer Freilassung aufzufangen. Im Gegensatz zu kirchlichen Einrichtungen hätten die Ehrenamtlichen bei ihnen nur geringe Hilfsmittel, um den Entlassenen mit Arbeit oder Wohnmöglichkeiten zu helfen. Das ist für ihn wichtiger „als Moscheen zu bauen“. 

Auch Meyer denkt darüber nach, was geschieht, wenn sie dann das Gefängnis verlassen können: Wer oder was fängt sie auf? Er gibt da durchaus seine Telefonnummer weiter, er hat auch zum Beispiel schon Hochzeiten für Entlassene gestaltet – doch hat natürlich keine Ressourcen, ihr ganzes Leben aufzufangen.

Die muslimischen Seelsorger könnten im persönlichen Gespräch die Ursache einer extremistischen Gesinnung, „ein Herz voll Hass“, ansprechen und auf mehr Ausgeglichenheit hinwirken. Sie könnten sich mit den ideologischen Botschaften von Salafisten und des „Islamischen Staats“ (IS) auseinandersetzen. Zumindest habe seine Strahlkraft sehr abgenommen. 

Auch Rückkehrer aus dem Bürgerkrieg seien jetzt nach zwei bis drei Jahren wieder entlassen. Husamuddin Meyer ist es wichtig für alle, einen Glauben zu vermitteln, der „bewahrt und zum Leben führt“.

Anmeldung und weitere Infos zu der Diskussion am 17. Mai: https://www.evangelische-stadtakademie-nuernberg.de/

Mehr Infos unter: https://medina-online.de