Editorial: Freude suchen

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Editorial Inge Wollschläger im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

„Geh aus mein Herz und suche Freud“ – schon im Kindergarten habe ich dieses Lied von Paul Gerhardt gesungen. Es begleitet mich mein ganzes bisheriges Leben. Und in den letzten Jahren beeindruckt es mich immer mehr. 

Wie kann man ein solches Lied so kurz nach der schrecklichen Zeit des Dreißigjährigen Krieges dichten? Wie kann man über so üppige  Schönheit schreiben, wenn viel  Leid in der eigenen Familie stattfindet? Und trotzdem brachte Paul Gerhardt dieses Lied mit fröhlichen und erwartungsvollen Aussagen zu Papier. 

Singend richtet sich der Blick auf die blumenübersäten Wiesen und auf grüne Wälder. Wir sehen die Lerche förmlich vor uns und die Bienen – wenn sie denn summen. Die Augen scheinen gar nicht zu wissen, wohin sie zuerst schauen sollen, um ja nichts zu verpassen. 

Und doch war die Welt des Kirchenliederdichters eine ganz andere. Da war nicht nur der lange Krieg, der ausbrach, als er elf Jahre alt war. Später sterben vier seiner fünf Kinder. Seine  Frau wird schwermütig. 

Traumatisierende Erlebnisse wie Krisen, Tod und Trennung bewirken oft, dass Menschen sich ein-igeln. Sie ziehen sich in sich selbst zurück. Es macht sie sprachlos. Es  fehlt jede Kraft, den Blick zu heben und wieder offen zu werden für anderes als den erlebten Schrecken. Worte können schwer trösten. 

Paul Gerhardt gelingt es wie durch einen Trick: In die Traurigkeit hinein webt er neue, andere Klänge. Er scheint sich selbst und sein Herz eindringlich aufzufordern: „Geh aus. Lenke den Blick nach außen. Locke deine Seele aus der Dunkelheit wieder hervor!“

In den Strophen des Liedes erweckt er Bilder zum Leben. Er vertraut auf ihre Wirkung – auf die Schönheit und die Anmut dieses Anblicks, dem man sich kaum entziehen kann – wenn man hinsehen kann. Dieser Wechsel führt uns vielleicht dann dahin, dass wir uns erinnern, was uns gut tut, und was uns in der Vergangenheit schon oft gut getan hat. Es lässt uns spüren, was uns früher gestärkt hat.

Geh aus mein Herz! Verlass Dich und dein vertrautes Leid – für eine Zeit. Wir spüren leidvolle Erfahrungen, Schmerz und Trauer. Und doch ist das nicht die letzte Wahrheit unserer Lebensreise. Jeder schöne Anblick, jedes Erlebnis, das unser Herz öffnet, weist uns darauf hin: Wir sind Teil von etwas Größerem.