Andacht: Wie neugeboren

616
Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

Aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.

aus Jesaja 40, 26–31

An den Wassern zu Babylon saßen wir und weinten, wenn wir an Zion dachten“. So beschreibt der Beter des 137. Psalms die Erfahrung des Exils, der babylonischen Gefangenschaft des Volkes Israel.

Ihr Sehnsuchts- und Kraftort, Zion, der heilige Berg, gleichgesetzt mit der Gegenwart des Ewigen, in weiter Ferne, und auch der Tempel nicht mehr da. In der Fremde nun seit fast 60 Jahren. Das, was eigentlich kein Leben war, ist zum Alltag geworden. Anfangs hatten sie noch davon geträumt, dass alles bald vorbei ist und sie baldmöglichst wieder ihr normales Leben leben können. Aber dann dauerte es viel länger, als sie sich ausgemalt hatten.
Müde und matt waren sie geworden über die Jahre und auch ihr Glaube halbwegs ausgetrocknet. Woran sie glaubten, hatten sie zunehmend aus den Augen verloren. Mit hängenden Köpfen und gehaltenem Blick wie die Emmausjünger, als sie auf dem Rückweg von Jesu Kreuzigung sind, gottverlassen und ohne zu merken, dass er doch die ganze Zeit an ihrer Seite ist.

Unser Exil heißt nun schon seit einigen Wochen auferlegtes zu Hause bleiben, mit all den Herausforderungen und Einschränkungen, die das mit sich bringt. Und vielleicht geht es vielen gegenwärtig ähnlich wie den ursprünglichen Adressaten des heutigen Predigttextes. In dieser trostlosen Situation erhebt Jesaja seine Stimme und entfacht neues Lebensfeuer bei den Hoffnungsmüden. In der Krise neue Kraft gewinnen – wie kann das gehen?

Ich wandle die Worte Jesajas in einen geistlichen Übungsweg. Der erste Schritt: Ich hebe meine Augen auf. Meinen Blick aufrichten, mich von meinen erkundungsfreudigen Augen leiten lassen, was alles da ist, wovon ich zehren kann, was ohne mein Zutun vorhanden ist, morgens das Morgenlicht wahrnehmen, tief ein- und ausatmen, den Lebens­atem spüren, den Gott mir geschenkt hat. Und immer dann im Laufe des Tages, wenn der Sorgenpegel steigt und ich Gefahr laufe, mich wieder einzukrümmen, sehe ich von mir ab.

Und ich richte meinen Blick auf den, der nicht nur das Himmelszelt über mir und die Erde unter meinen Füßen geschaffen hat, sondern auch mich bei meinem Namen ruft und berge mich in ihn hinein. Als „Sesam öffne Dich“ spreche ich einen Vers aus meinem biblischen Kraftwortschatz, etwa meinen Tauf- oder Konfirmationsspruch.

Der zweite Schritt: „Mein Weg ist dem Herrn verborgen“ – ich gebe dem Zweifel, dem Seufzen Raum. Ich mache mir bewusst: Ich bin damit nicht allein, die Psalmen singen ein Lied davon, das Volk Israel in seiner ganzen Geschichte, Jesus am Kreuz in seiner gottesverlassenen Gottesgewissheit, die Jünger. Für alle und alles hat Gott ein Ohr. Ich darf aussprechen, was quält und schwer ist und vor Gott bringen!

Dann ist der Weg geebnet für den nächsten Schritt – ich erinnere mich, wie und wo Gott in meinem Leben seine Hand im Spiel hatte, direkt oder durch seine Handlager hier bei uns auf Erden. Ich lasse diese Situationen Revue passieren und vielleicht kommt mir dabei sogar ein fröhliches Loblied über die Lippen.

Es kann sein, dass bei allem Wind, der von vorne bläst oder auch bei verordneter Windstille, Gottes Kraft mir Flügel verleiht und ich mich fühle wie der Name dieses Sonntags verheißt: „Quasimodogeniti“– wie neugeboren!

Pfarrer Bernd Berger, Auferstehungskirche, München