Ein Leben mit Kevin

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Lebenslinien in Gottes Hand: Offene Hilfen unterstützen bei einem behinderten Kind

Neusitz, Dekanat Rothenburg. „Da kommt Kevin ja schon“, sagt Birgit Kartes, als der Schulbus vor der schmucken Doppelhaushälfte in der kleinen Gemeinde Neusitz bei Rothenburg ob der Tauber hält. Kevin ist der 18-jährige Sohn von Birgit Kartes. Er hat einen seltenen Gendefekt, das Xia-Gibbs-Syndrom. Wegen seiner Behinderung braucht er eine intensive Betreuung. Unterstützt wird Birgit Kartes dabei vom Team der Offenen Hilfen ARON von Diakoneo.

Kevin hat zwei ältere Brüder. Nachdem er auf die Welt gekommen war, wussten seine Eltern lange nicht, dass sie ein Kind mit Behinderung haben. Im Alter von sechs Monaten wurde eine Entwicklungsverzögerung festgestellt. „Er war einfach anders als meine zwei Großen“, erinnert sich Birgit Kartes. Als Kevin etwa fünf Jahre alt war, nahm ein Arzt zum ersten Mal das Wort „Schwerbehinderung“ in den Mund.

Der Junge besuchte dann einen integrativen Kindergarten in Rothenburg. „Das war super, weil es da auch eine Heilpädagogin gab“, erzählt seine Mutter. Die Einschulung schob sie ein Jahr hinaus. Aber auch mit sieben Jahren war Kevin noch sehr klein und zierlich. „Am ersten Schultag hab ich geheult, weil mir bewusst wurde, wie krank unser Kind ist“, bekennt Birgit Kartes.

Wer sich mit Kevin unterhalten will, muss gut zuhören, denn seine sprachliche Entwicklung ist verzögert. „Er hat so seine eigene Sprechweise“, sagt seine Mutter, „aber wir verstehen ihn.“

„Am Anfang wussten wir ja nichts. Ich habe viel gelesen, um mehr zu verstehen. Man wächst da rein. Ich habe so viel gelernt in meinem Leben mit Kevin“, berichtet Birgit Kartes. Zum Leben mit einem Kind mit Behinderung gehört auch eine Menge Bürokratie, wie zum Beispiel die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises und viele andere Anträge. Da können die Offenen Hilfen unterstützen.

Es hat lange gedauert, bis bei Kevin das Xia-Gibbs-Syndrom diagnostiziert wurde: „Bis vor drei Jahren wussten wir nicht, was unser Kind hat. Es gab nie ein Kind wie Kevin.“ Erst nach stundenlangen humangenetischen Untersuchungen in Erlangen, für die die Eltern ihre eigenen Daten freiwillig zur Verfügung stellten, wurde der Gendefekt identifiziert. Typische Gesichtszüge, eine geringe Körpergröße und die Skoliose im Rücken sind Anzeichen dafür.

Durchgetaktete Tage

Für Birgit Kartes war es nicht immer einfach, ihre selbstständige Berufstätigkeit mit Kevins Betreuung unter einen Hut zu bringen, „und es ist heute noch nicht einfach“, sagt sie. Ganz besonders gilt das in den Ferienzeiten. Aber als gute Organisatorin hat sie es doch geschafft: „Mein Tag ist durchgetaktet, ich muss immer funktionieren, aber ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen.“ Um 5 Uhr morgens ist die Nacht für die Familie vorbei. Um 6.45 Uhr wird der junge Mann vom Schulbus abgeholt und kurz nach 16 Uhr wieder gebracht. Einer der beiden großen Brüder wohnt noch mit im Haus. Kevin hängt an seinen Brüdern, die berufstätig und im Studium sind und trotzdem ab und zu bei der Betreuung einspringen. Kevin ist als 18-Jähriger auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkinds und immer in Bewegung. Allein kann er nicht sein.

Kevin umarmt die Gäste

Als Kevin nach Hause kommt, begrüßt er die Gäste mit einer fröhlichen und freundlichen Umarmung. Er hat es gern, wenn Besuch kommt und lädt auch gleich dazu ein, zum Abendessen zu bleiben. Wichtig sind ihm Ordnung und Rituale im Alltag – und eine Tasche, in der er seine Habseligkeiten aufbewahrt.

Wenn seine Mutter einmal keine Zeit hat, kann sie für fünf Stunden im Monat auf die Fachkraft der Offenen Hilfen zurückgreifen. „Verhinderungspflege“ nennt sich das in der Fachsprache. In dieser kleinen Auszeit für die Mutter gehen ARON-Mitarbeiterinnen wie Katja Rimbach oder Tanja Danielis mit Kevin ins Schwimmbad oder in ein Restaurant. Birgit Kartes findet es beruhigend, dass ihr Sohn dann in den Händen von vertrauten Fachkräften ist, die sich mit den besonderen Anforderungen bei der Pflege von Menschen mit Behinderung auskennen.

Offene Hilfen unterstützen

Die Verhinderungspflege und der Entlastungsbetrag werden von der Pflegekasse finanziert. Sobald ein Kind oder ein Pflegebedürftiger einen Pflegegrad hat, muss abhängig vom Pflegegrad eine viertel- oder halbjährliche Pflegeberatung erfolgen, wenn die Angehörigen beziehungsweise Eltern Pflegegeld beziehen.

Die Pflegeberatung der Offenen Hilfen geht über das Maß einer normalen Pflegeberatung weit hinaus, denn sie ist umfassend auf die Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung und ihrer Angehörigen zugeschnitten. Sie beinhaltet neben den pflegerischen auch sozialrechtliche Inhalte. Der Beratungsbedarf ist nicht zuletzt deswegen hoch, weil sich unter anderem durch das neue Bundesteilhabegesetz für Menschen mit Behinderung viel verändert. Für Kevin, der im letzten Jahr 18 geworden ist, hat Birgit Kartes beim Bezirk ein „persönliches Budget“ beantragt. Damit werden Stunden für die Freizeitgestaltung finanziert. „Der Bürokratieaufwand für Eltern ist enorm“, erläutert Tanja Danielis von den Offenen Hilfen. Bei einer Personenkonferenz wird festgestellt, welchen Bedarf jemand hat.

Wer als Mensch mit Behinderung beziehungsweise als Angehöriger oder Betreuer Angebote der Offenen Hilfen in Anspruch nehmen möchte, kann zunächst einfach bei den Offenen Hilfen ARON (Ansbach, Rothenburg, Obernzenn, Neustadt/Aisch) unter der Telefonnummer 0981 9722300 anrufen. Die Mitarbeiterinnen kommen dann zuhause vorbei. „Das war für uns sehr praktisch“, sagt Birgit Kartes, „weil man keine Betreuung organisieren muss.“

Diakoneo/Thomas Schaller