Andacht: Nicht sehen und sehen

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Andacht im Evangelischen Sonntagsblatt aus Bayern

In diesen Tagen muss ich oft zweimal hingucken, um zu erkennen, wer mir begegnet. Es ist Fasching –da nehmen sich viele die Freiheit, mal anders auszusehen und in andere Rollen zu schlüpfen. In manchem Kostüm erahnt man Wünsche und Sehnsüchte. Sehen und gesehen werden – wie ich es will.

Auch die Jünger Jesu wollen gesehen werden. Sie begleiten Jesus auf seinem Weg nach Jerusalem. Noch immer hoffen sie auf einen triumphalen Einmarsch in Jerusalem. Da nimmt Jesus sie beiseite und sagt ihnen Folgendes:

Wir gehen hinauf nach Jerusalem – es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten. Er wird überantwortet werden von den Heiden – er wird verspottet, misshandelt und angespien werden. Sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. Lk 18, 31b–33

Jesus zitiert aus den Schriften. Die Jünger wollen das jetzt nicht hören: Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen. Jesus hat gesagt, was er sagen wollte, keiner hat es verstanden – es geht trotzdem weiter. Sie haben schließlich ein großes Ziel: Hinaufziehen nach Jerusalem.

Jesus scheint nicht erbost, dass die Jünger nichts verstanden haben. Inzwischen sind sie in Jericho angelangt auf ihrer Reise. Für jüdische Pilger war Jericho die letzte Station vor dem beschwerlichen Anstieg nach Jerusalem. Wie in jeder Stadt gibt es auch dort Menschen am Rande der Gesellschaft. Ein Blinder saß am Wege und bettelte.

Jesus blieb stehen und befahl, ihn zu sich zu führen. Er fragte ihn: Was willst du was ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann: Jesus sprach zu ihm: Dein Glaube hat dir geholfen: Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott.

Der Blinde ist aufmerksam und lauscht darauf, was geschieht. Er sieht nichts und spürt, dass da jemand Besonderes vorbeigeht. Es ist Jesus. Jesus hört den Blinden, lässt ihn zu sich und begegnet ihm auf Augenhöhe. Der Blinde wird sehend, es geht die Sonne für ihn auf, explodieren die Farben. Er folgt Jesus nach und ahnt: Jesus hat noch mehr zu bieten. Mit ihm werde ich noch so viel sehen, dass mir die Augen übergehen.

Der Blinde hat in diesem Moment alles richtig gemacht, hat gesehen, was die Jünger nicht sehen können. Diese sind einfach zu nah dran an Jesus. Sie sind blind dafür, wer er ist und wohin sein Weg ihn führt. Wer mittendrin steht, ist manchmal blind. Erst der Abstand lässt einen oft wieder sehend werden. Deswegen sind die Jünger aber nicht die schlechteren Nachfolger Jesu. Das wird nicht aufgerechnet an der Stelle. Und was auch klar ist: Begeistert ist man schnell von einer Sache, gerade wenn sie so einen durchschlagenden Effekt hatte wie das Sehen für den Blinden – dabeibleiben ist anstrengend. Wer weiß, wie lange der ehemals Blinde dabeigeblieben ist bei der Nachfolge?

Jericho, wo die Szene spielt, liegt nur noch 26 Kilometer von Jerusalem entfernt. Jerusalem ist Jesu Ziel. Dort wird alles vollendet werden. Das wird ein schwerer und schmerzhafter Prozess. Dass Gott sich so erniedrigt, dass Leiden und Sterben Zeichen für ihn sind und nicht Stärke und Macht – das ist wirklich unverständlich. Unsere Welt funktioniert anders. Jesus setzt die Regeln außer Kraft, gibt Hoffnung. Er befreit, spart dabei Leiden nicht aus, sondern nimmt es mit hinein. Deswegen kann der Blinde sehen, weil er daran glaubt, dass Jesus es bewirken kann als Sohn Gottes. Wunderbar bleibt, wie Jesus uns Menschen ansieht: mit Liebe, mit Hoffnung und mit Zuversicht.

Pfarrerin Cornelia Stadler, Neubiberg, Ottobrunn, Hohenbrunn

Lied 401: Liebe, die du mich zum

rotabene
An dieser Stelle schreiben verschiedene Autoren für das Evangelische Sonntagsblatt.