Hey, in diesem Lager wärst du gewesen?

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Marina Chernivsky und Liane Bednarz untersuchen Gründe für Ausgrenzung anderer

Es war wahrscheinlich gar nicht böse gemeint: Nach einem Besuch in einer Gedenkstätte fragten die Mitschüler ihren jüdischen Klassenkameraden: „Hey, hier wärst du gewesen?“ So berichtet es Marina Chernivsky vom „Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland“. Sie war eigens aus Berlin angereist, um beim Fachtag „Antisemitismus und Schule“ im Jüdischen Museum Fürth aus ihrer Arbeit zu berichten. Der Fachtag Ende 2019 war mit 80 Anmeldungen schon Wochen zuvor ausgebucht.

Als ein Beispiel unter mehreren soll ihre Arbeit dargestellt sein. Gerade nun, zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZs Auschwitz zeigt sich besonders drängend, dass eine Erziehung zur Toleranz offenbar nicht die Früchte zeigt, die sich erhoffen ließen. Die anwesenden Lehrkräfte zeigten deutlich, dass ihnen das Thema unter den Nägel brennt. Die Teilnehmenden merkten bei ihren Fragen mehrfach an, dass sie zu wenig Zeit für dies Thema im Unterricht hätten – gerade auch bei entsprechenden Vorfällen auf dem Pausenhof. Und es stehe zu spät im Lehrplan.

Zuvor war historisch geklärt worden, wie klassische und neue Formen des Antisemitismus immer noch aussehen. Direkte Vorfälle, die Chernivsky vorstellte, machten sie greifbarer.

Die Psychologin sammelt mit ihrem Team aktuelle Wahrnehmungen jüdischer Schülerinnen und Schüler zu unbedachten oder feindseligen Äußerungen und wertet sie aus. Viele gaben an: Sobald sie ihre Religionszugehörigkeit zugaben, würden sie als Fremde wahrgenommen. Sie reagieren dann oft mit „Selbstverleugnung“, so dass sie ihre Identität nicht öffentlich machen.

Die Psychologin deutet dies als „Vergangenheitsabwehr“: Selbst bei der Gedenkstättenfahrt hätten die Pädagogen nicht reagiert. „Bei Beschwerde kommt dann oft der Vorwurf, dass sie zu sensibel seien.“ Und sie hat die Erfahrungen gemacht: Die „Minderheitsperspektiven interessieren niemanden“.

Und sie sieht ein „überwiegend historisches Verständnis des Antisemitismus“. Das war früher mal. Wie prägt er uns heute noch? Die „Empörungskurven verflachen schnell“. Die „wirkungsmächtige Hinterlassenschaft bleibt bestehen“ und „sitzt uns im Nacken“. Aber: Eine „Erziehung über Auschwitz immunisiert nicht“. Es schafft auch Aggressionen, wenn Kinder fassungslos zurückblieben. Jüdische Perspektiven würden nur kaum dargestellt.

Die Frage ist dann, wie das geschehen kann, wenn Juden sich nur vorsichtig zu erkennen geben.

Kernbegriff gekapert

Für einen verantwortlichen Umgang miteinander rief auch Liane Bednarz Ende 2019 bei der Veranstaltungsreihe „Weltanschauungen im Gespräch“ im Rothenburger Wildbad zum Thema „Verschwörungstheorien“ auf. Sie stellte ihr Buch „Die Angstprediger. Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern“ vor. Gerade rechte Bewegungen stellen sich immer öfter gern als „konservativ“ dar. Doch bei ihnen zeige sich „eine Melange aus klassisch konservativen und rechten Positionen“ (Seite 10 f.).

Dabei knüpften sie an die „Vordenker der sogenannten ‚Konservativen Revolution‘ der späten Weimarer Republik an, deren Haltung völkisch, antiliberal und antipluralistisch war“ (Seite 10). Sie waren also nicht direkt Nazis, aber Gruppierungen, die den Nazis zumindest naiv gegenüberstanden. Denn sie erhofften sich von ihnen Unterstützung gegen den damals empfundenen Verfall und der Dekadenz. Dafür wurden sie dann mit zu den Steigbügelhaltern der Nazis.

Das ist für Liane Bednarz besonders bedenklich, „weil man bei Menschen, die dezidiert christlich auftreten, eher nicht mit solchen Termini und rechtem Gedankengut rechnet. Im Gegenteil: Oftmals genießen sie einen Glaubwürdigkeitsvorschuss, weil ihnen ein hohes Maß an Nächstenliebe und Barmherzigkeit zugeschrieben wird. Das macht es besonders einfach, ihre Thesen unter dem Deckmantel der Lehramts- bzw. Bibeltreue zu verbreiten“ (Seite 8 f.).

Schon ein Blick in die Bibel zeige, dass eine solche Auffassung „der Lehre Jesu fundamental widerspricht. Im Neuen Testament geht es um die Erlösung des sündigen Menschen durch den Kreuzestod Jesu Christi. Vor Gott zählt der Mensch als solcher, ein Denken in ethnisch-kulturellen Kategorien wird im Neuen Testament überwunden“, so Bednarz in den „Angstpredigern“ (Seite 50). Eine strenge Gegenüberstellung zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“, das offenbar schlechter sein soll, wird dem Neuen Testament nicht gerecht.

Daher sollten gerade Christen im eigenen Interesse diesen Begriff „konservativ“ nicht von rechten Bewegungen „kapern“ lassen, da er gerade so diskreditiert wird. Er bedeute nicht Bewahrung, sondern Zerstörung. Nur die eigene Auffassung und Lebensweise erscheint als richtig und schützenswert. Gibt es Widerspruch, so wird gerne ein fast weinerliches Opferdenken gepflegt, dass „alle“ einen verfolgen und „man“ nichts mehr sagen dürfe.

Was zählt denn?

Welche christlichen Werte sind unzweifelhaft bewahrenswert? Nächstenliebe und Treue, Verantwortungsbereitschaft und Achtung vor dem anderen gehören für mich dazu. Aber nicht, auf einer ausgrenzenden Identität zu beharren. Und erschreckt auf den „Verfall der Sitten“ zu starren. Die christliche Identität zeigt sich nicht darin, Angehörige anderer Religionen oder Lebensformen auszugrenzen, sondern bei der Nachfolge der Werte Jesu. Wenn christliche Positionen Hass legitimieren oder andere verächtlich machen, stärken sie zerstörerische Positionen, schwächen aber christliche Inhalte und Jesu Lehre.

Nächstenliebe ist nichts Herablassendes, sondern voller Achtung für den anderen, um seiner Persönlichkeit empathisch gerecht zu werden. Da trifft sich Liane Bednarz sicher mit Marina Chernivsky. Es erschreckt mich, dass diese Überzeugung, immer weniger selbstverständlich erscheint – und dies gerade jetzt: 75 Jahre nach Auschwitz.

Liane Bednarz: „Die Angstprediger: Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unterwandern“, Droemer Verlag, 2018, 256 Seiten, 16,99 Euro, ISBN 978-3-426-27762-1.